• Stiften in Ostdeutschland

„Stiftungen müssen vor Ort sichtbar sein“

Erst im November 2022 hatte der Ostbeauftragte der Bundesregierung Carsten Schneider (SPD) Stiftungen aus Ost- und Westdeutschland ins Kanzleramt geladen. Mit uns sprach er über den so wichtigen Austausch, die Stiftungslandschaft in Ostdeutschland und das „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“.

Carsten Schneider beim Deutschen Stiftungstag 2022 in Leipzig
© David Ausserhofer
7 Minuten 03.01.2023
Interview: Beate Wild

Stiftungswelt: Herr Staatsminister, in jüngster Zeit gibt es im Osten Deutschlands wieder vermehrt Demonstrationen, die sich unter anderem gegen die Corona-Gesetze, Flüchtlinge oder die Gasumlage richten. Die Unzufriedenheit mit der Politik sieht man auch in Ihrem aktuellen Bericht als Ostbeauftragter. Danach sind nur 39 Prozent der Ostdeutschen sind mit dem Zustand der Demokratie in Deutschland zufrieden. Das sind neun Prozent weniger als noch vor zwei Jahren. In Westdeutschland liegt die Zufriedenheit mit der Demokratie um einiges höher, bei 59 Prozent. Woher kommt der Frust im Osten? 

Carsten Schneider: Die Zahlen unseres Deutschland-Monitors sind in der Tat alarmierend, allerdings nicht allein mit Blick auf den Osten. Die Zufriedenheit mit der Politik, der Funktionsweise unserer Demokratie und der Umsetzung der Meinungsfreiheit ist in den letzten zwei Jahren in beiden Landesteilen in fast identischem Umfang gesunken. Und wenn man etwas genauer hinschaut, zeigt sich, dass die Menschen insbesondere dann unzufrieden sind, wenn sie zum einen das Gefühl haben, dass es sozial ungerecht zugeht, und zum anderen die Lebensbedingungen bei sich vor Ort als schlecht bewerten. Es kann also kaum verwundern, dass die Menschen in Ostdeutschland besonders unzufrieden sind, wenn man bedenkt, dass sie auch 32 Jahre nach der Deutschen Einheit jeden Monat im Durchschnitt rund 619 Euro weniger verdienen als ihre westdeutschen Kolleginnen und Kollegen. Dies ist aus meiner Sicht ein klarer Handlungsauftrag an den Staat: Wir dürfen die strukturschwachen Regionen nicht aus den Augen verlieren und müssen uns noch stärker für gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Teilen Deutschlands einsetzen. 

Wie können Stiftungen daran mitwirken, die Demokratie in den ostdeutschen Bundesländern zu stärken?
Wir brauchen in Ostdeutschland niemanden, der erklärt, was Demokratie bedeutet. Die große Mehrheit der Ostdeutschen steht für die Demokratie und für ein solidarisches Miteinander ein. Das müssen wir stärker sichtbar machen und noch wichtiger: stärker fördern. Häufig fehlen die Mittel und verlässliche Strukturen. Mein Ansatz ist es immer, die Menschen zu stärken, die sich für die Gesellschaft einsetzen. Stiftungen können hier glaubhaft unterstützen, wenn sie vor Ort sind und die richtigen Partner kennen. Ich will kein einzelnes Projekt herausgreifen. Doch nach meinen Beobachtungen leisten Bürgerstiftungen hier bereits gute und vertrauensvolle Arbeit.  

„Die Ostdeutschen haben gelernt, mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen umzugehen.“ 

Carsten Schneider
Ostbeauftragter der Bundesregierung (SPD)

Der Titel Ihres neuen Berichts heißt „Ostdeutschland – ein neuer Blick“. Was ist unter diesem neuen Blick zu verstehen?
Wenn wir uns einmal bewusst machen, wie in den vergangenen 32 Jahren auf Ostdeutschland geschaut wurde, dann standen da zumeist die Defizite im Vordergrund. Es ging um das, was noch aufgeholt werden muss, um zum Vergleichsmaßstab West aufzuschließen. Und wenn der Osten in den Medien vorkam, dann in Berichten über Nazis, Doping und die Stasi. Es ist Zeit, diesem verzerrten Bild ein etwas realistischeres und differenzierteres Bild entgegenzusetzen, denn „den“ einen Osten gibt es natürlich genauso wenig wie „den“ einen Westen.  

Ich möchte die Aufmerksamkeit auf die vielen ostdeutschen Stärken und Besonderheiten lenken, die das vereinte Deutschland bereichern. Denken wir nur an die Millionen Ostdeutsche, die seit 1990 die westdeutsche Wirtschaft gestärkt haben, oder an die Vorreiterrolle, die Ostdeutschland nach wie vor mit Blick auf die Gleichstellung der Geschlechter oder auch im Bereich der Kinderbetreuung hat. Auch ökonomisch hat sich Ostdeutschland dynamisch entwickelt. Ohne die Wiedervereinigung wäre nicht nur der Osten, sondern auch der Westen ein wesentlich ärmeres Land.  

Sie selbst gehören zur Generation der Wendekinder. Wie haben Sie die Zeit der Wiedervereinigung mit ihren Umbrüchen erlebt?
Die Phase nach der Friedlichen Revolution und Deutschen Einheit hat mich geprägt. Als die Mauer fiel, war ich gerade 14 Jahre alt und lebte in einem typischen Plattenbauviertel am Erfurter Herrenberg. Für mich persönlich waren die neunziger Jahre eine Zeit der stetig wachsenden Lebenschancen und neuen Perspektiven. Doch um mich herum geriet die Welt aus den Fugen. Wie viele andere haben auch meine Eltern ihre Jobs verloren und sind für neue Beschäftigung und in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in den Westen gegangen. Diese Zeit war gekennzeichnet von Unsicherheit, Arbeitslosigkeit und Angst. Diese Zeit der Transformation hat die Menschen widerstandsfähig gemacht. Die Ostdeutschen haben gelernt, mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen umzugehen. Auch ich selbst habe in dieser Zeit gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen und mich an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen. Diese Erfahrungen teile ich mit ganz vielen Ostdeutschen. Aber ich kann auch gut nachvollziehen, wenn Ostdeutsche ein besonders starkes Bedürfnis nach stabilen Verhältnissen verspüren.

Im November 2022 hat sich der Ostbeauftragte Carsten Schneider im Kanzleramt mit Stiftungsvertretern getroffen. Copyright: Kanzleramt
Im November 2022 hat sich der Ostbeauftragte Carsten Schneider im Kanzleramt mit Stiftungsvertretern getroffen.
© Bundeskanzleramt

 

Neulich hatten Sie Stiftungen aus West- und Ostdeutschland zu einem Treffen ins Kanzleramt geladen. Es ging um die Stärkung des zivilgesellschaftlichen Engagements in Ostdeutschland. Was war Ihre Botschaft an die anwesenden Stiftungen, was haben umgekehrt Sie von den Stiftungen mit auf den Weg bekommen? 
Aus Gesprächen mit privaten Stiftungen, die traditionell ihren Sitz in den westdeutschen Bundesländern haben, wusste ich, dass es eine große Bereitschaft gibt, sich noch stärker in Ostdeutschland zu engagieren. Doch es scheint schwierig zu sein, die richtigen Andockstellen und Ansprechpartner zu finden. Deswegen habe ich Stiftungen aus West und Ost und auch Abgeordnete zusammengeholt, um zu hören, welche Erfahrungen es gibt, wo Probleme gesehen werden und welche Ansätze in den Stiftungen existieren. Ein zentrales Ergebnis war, dass die Arbeit der Stiftungen nur dann gut funktioniert, wenn sie vor Ort sichtbar sind, zuhören und Vertrauen aufbauen. Der Osten tickt anders, daher funktionieren westdeutsche Ansätze nur bedingt im Osten. Für mich war das Treffen ein Auftakt. Der Stiftungssektor in Ostdeutschland hat viel Potential, das ich gern heben möchte – auch mit Unterstützung der westdeutschen Stiftungen.  

Die Stiftungslandschaft im Osten liegt auch nach mehr als 30 Jahren immer noch weit hinter der im Westen zurück. Von den 24.650 Stiftungen, die es 2021 in Deutschland gab, haben 92,8 Prozent ihren Sitz in den westlichen Bundesländern. Nur 7,2 Prozent der Stiftungen liegen im Osten. Liegt das allein an der schwächeren Wirtschaftskraft? Oder sehen Sie noch andere Gründe, warum die Menschen im Osten trotz der früher vor allem in Sachsen und Thüringen so lebendigen Stiftungstradition heute nicht so leicht für das Stiften zu begeistern sind?
Die Wirtschaftskraft ist sicher ein wichtiger Faktor. Es fehlen auch die großen Konzerne, in deren Umfeld sich kapitalstarke Stiftungen häufig gründen. Und auch die Vermögensbildung für Investitionen in Stiftungskapital ist in den ostdeutschen Bundesländern noch auf niedrigem Niveau. Man darf aber auch nicht vergessen, dass in der DDR Stiftungen unerwünscht waren, zum größten Teil aufgelöst wurden. Die Stiftungskultur wurde erst nach 1990 wiederbelebt. Im Westen haben häufig Einzelpersonen oder Familien mit großem Vermögen Stiftungen ins Leben gerufen. Im Osten sind es heute vor allem die Bürger*innen, die Stiftungen gründen. Die Zahl der Gründungen hat sich in den letzten Jahren erfreulicherweise gut entwickelt. Das zeigt die große Bereitschaft der Menschen, sich nachhaltig und langfristig für die Gesellschaft zu engagieren und auch wieder an die Stiftertradition anzuknüpfen.   

Was wollen Sie auf politischer Ebene tun, um die Rahmenbedingungen für das Stiften in Ostdeutschland zu verbessern?
Zunächst einmal tritt am 1. Juli 2023 die Stiftungsrechtsreform in Kraft, die das Stiftungsrecht vereinheitlicht. Das hilft auch den Stiftungsbehörden in den Ländern und trägt vor allem auch zum Abbau von bürokratischen Hemmnissen bei der Gründung und Verwaltung einer Stiftung bei. Mit Blick auf Ostdeutschland sehe ich zwei Herausforderungen, die wir anpacken müssen. Erstens: Kleinere Stiftungen verfügen häufig nicht über das notwendige Know-how, wenn es um rechtliche, steuerrechtliche Fragen oder Anlagestrategien geht. Gerade Stiftungen, die nur über ein kleines Kapital verfügen, spüren den Ausfall von Renditen besonders. Mit der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt haben wir eine kompetente Anlaufstelle in Neustrelitz geschaffen, die umfassend berät und unterstützt. Und es gibt darüber hinaus gute Erfahrungen auch im Osten, wenn größere Stiftungen die kleineren bei der Verwaltung unterstützen. Das möchte ich stärker publik machen. Zweitens: Die finanzielle Ausstattung ist immer noch sehr gering. Daher möchte ich die Unternehmen in den Regionen gewinnen, sich als Zustifter oder Förderer vor Ort zu engagieren. Denn ein gutes Lebensumfeld hält die Menschen in der Region und stärkt das Arbeitskräftepotential. 

In Ostdeutschland gibt es viele Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren oder bei Bürgerstiftungen aktiv sind. Wie wichtig ist dieses Engagement? Und was kann der Westen vom ostdeutschen Bürgerengagement lernen?
Es gibt Unterschiede zwischen dem Engagement in Ost- und Westdeutschland. Aber ich halte wenig davon zu vergleichen, was oft nicht zu vergleichen ist. Engagement ist im Osten häufiger projektbezogen, informell und weniger in festen Strukturen verankert. Die Zahl der Bürgerstiftungen ist im Osten noch zu gering, um in ihrer Wirkung und Breite wahrgenommen zu werden. Von 420 Stiftungen im Jahr 2020 lagen nur 32 in den fünf ostdeutschen Flächenländern. Ich fände es gut, wenn in den nächsten Jahren mehr Stiftungen entstehen würden. Diese bieten aufgrund ihres langfristig angelegten Engagements viele Vorteile, die den Menschen und auch den Kommunen zu Gute kommen würden.  

„Ich fände es gut, wenn in den nächsten Jahren mehr Stiftungen entstehen würden.“ 

Carsten Schneider
Ostbeauftragter der Bundesregierung (SPD)

In den größeren Städten funktioniert das Engagement schon sehr gut. Doch wie lässt sich gerade der ländliche und strukturschwache Raum weiter stärken? 
Engagement funktioniert auf dem Land anders als in den Städten. Dort gibt es keine großen Vereine oder Stiftungen. Das trifft für den Osten wie auch für den Westen zu. Etwa 46 Prozent der Ostdeutschen leben in ländlichen Regionen, wo es kaum Anlaufstellen und Ansprechpartner gibt. Die Leute kümmern sich vor Ort, ohne dass sie dafür eigene Strukturen aufbauen. Auch die Themen auf dem Land sind andere. Es geht eher um Dinge, die das tägliche Zusammenleben betreffen. Ich sehe hier vor allem den Bedarf an finanzieller Unterstützung, um Ideen in die Tat umzusetzen – meist nur ein paar hundert Euro. Diese Hilfe muss unkompliziert zugänglich sein und nicht erst durch ein Dickicht an Anträgen.  

Bis 2028 soll in Ostdeutschland das „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ entstehen. Es liegen Bewerbungen von sieben Orten in Ostdeutschland vor: Leipzig und Plauen in Sachsen haben eine gemeinsame Bewerbung eingereicht, dazu kommen Frankfurt/Oder in Brandenburg, Halle in Sachsen-Anhalt sowie Eisenach, Jena, Mühlhausen und Sonneberg in Thüringen. Wann wird entschieden, wohin das Zentrum kommen soll?  
Für die Entscheidung über den Standort habe ich eine unabhängige Jury mit großer fachlicher Expertise eingesetzt. Anfang 2023 wird diese Jury eine Empfehlung an die Bundesregierung aussprechen und dann bereiten wir für den ausgewählten Standort den Architekturwettbewerb vor. Aber schon bevor das Zentrum steht, muss inhaltliche Arbeit stattfinden. Damit starten wir im kommenden Jahr.  

Wie soll diese inhaltliche Arbeit aussehen und welche Rolle können Stiftungen dabei spielen? 
Das Zentrum mit seinen Schwerpunkten auf Wissenschaft, Kultur und Dialog ist für mich eines der zentralen Projekte für das wiedervereinigte Deutschland, ja sogar für das sich neu sortierende Europa in den kommenden Jahren. Wir wollen, dass sich Wissen, Kultur und Erfahrungen aus der Nachwendezeit gegenseitig befruchten – und dass daraus eine Plattform entsteht, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt. Das umfasst eine Selbstverständigung der Ostdeutschen über ihre Erfahrungen der vergangenen 30 Jahre, die Frage der inneren Einheit Deutschlands bis hin zu einer stärkeren Berücksichtigung der Umbruchserfahrung in den mittel- und osteuropäischen Staaten. Da gibt es bis heute Wissenslücken, fehlenden Dialog und zu wenig gemeinsame Reflektion. Diese Leerstellen soll das Zentrum schließen. Aus Wissen und gegenseitiger Anerkennung soll Zuversicht für künftige Herausforderungen entstehen. Insofern sehe ich das Zentrum auch als einen natürlichen Partner für alle Stiftungen, die insbesondere gesellschaftspolitisch und im internationalen Bereich arbeiten. Ich hoffe auf eine sehr enge Kooperation und gegenseitige Unterstützung. 

Über den Gesprächspartner: 

Ostbeauftragter Carsten Schneider
Ostbeauftragter Carsten Schneider
© Kanzleramt

Carsten Schneider ist Staatsminister beim Bundeskanzler und Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland. Der SPD-Politiker aus Erfurt gehört dem Deutschen Bundestag seit 1998 an. 

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