Avatare und Augmented Reality: Auf dem Weg zur digitalen Erinnerungskultur

Alljährlich am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945, wird der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Doch wie kann kollektives Erinnern gelingen, wenn es kaum noch Zeitzeug:innen gibt? Und welche Rolle spielen digitale Medien dabei?

Zeichnungen von Häftlingen des KZ Dachau werden per Augmented Reality in den Gedenkort eingebunden.
© Zeichnung: Karel Frinta, DaA O 274, KZ-Gedenkstätte Dachau / Foto: Zaubar.

Am 27. Januar jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 78. Mal. Die vorrückende Rote Armee traf an diesem Tag des Jahres 1945 auf mehrere tausend Menschen, die die Gräuel überlebt hatten; ein weitaus größerer Teil der Gefangenen war im KZ ermordet oder von den SS-Wachen auf sogenannte Todesmärsche geschickt worden. In diesen Tagen wird des Datums, das in Deutschland seit 1996 als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und international seit 2005 als International Holocaust Remembrance Day begangen wird, auf verschiedenen Wegen gedacht – mit Kranzniederlegungen, Mahnreden und einer Gedenkstunde im Deutschen Bundestag.

Seit einigen Jahren wird unser kollektives Erinnern um eine digitale Dimension erweitert: Weltweit werden die Namen von Ermordeten über Medieninstallationen auf Gebäude projiziert. Social-Media-Nutzer:innen folgen dem Aufruf von World Jewish Congress und UNESCO und posten #WeRemember“-Aktionen. Zeitzeug:innen berichten digital über ihre Erlebnisse – wie im volumetrischen Video der Holocaust-Überlebenden Eva Umlauf, ein von der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (EVZ) gefördertes Projekt der Universität München (VoViREx - Lernen mit digitalen Zeugnissen (LediZ) - LMU München (uni-muenchen.de)) 

Zeitzeug:innen in 360-Grad-Aufnahmen

Die Holocaust-Überlebende Eva Umlauf bei der Aufnahme eines 3D-Zeitzeuginnengesprächs.
© Bright White Ltd.

Je weiter wir uns zeitlich vom Zweiten Weltkrieg entfernen, desto seltener kann auf das direkte Erfahrungswissen von Zeitzeug:innen zurückgegriffen werden. Ihre Worte, in Begegnungen, Büchern und Dokumentationen erfasst, galten bisher als höchste Instanz von Authentizität in der historischen Bildung. Neue Formen der Vermittlung sind gefragt. In vielen Projekten der historisch-politischen Bildung liegt der Fokus darauf, diese „Authentizität“ zu erhalten und unmittelbares (Mit-)erleben zu erzeugen. Zeitzeug:innen wie die Kinderärztin Eva Umlauf erzählen in 360-Grad-Aufnahmen, die sie „verkörpern“ und abbilden, von ihrer Kindheit bis zur Gegenwart. Es gibt weitere Zugänge und Darstellungsformen, in denen zusätzlich ein Dialog zwischen den „Avataren“ der Zeitzeug:innen und den User:innen entsteht, Fragen gestellt und beantwortet werden können.

Andere Technologien der historisch-politischen Bildung sind Virtual Reality und Augmented Reality, mit denen physische Objekte oder Orte erweitert oder kontextualisiert werden. Ein Beispiel ist die Augmented-Reality-App „Die Befreiung AR“ der KZ-Gedenkstätte Dachau. Die App leitet Besucher:innen des Gedenkortes und platziert Ausschnitte von Originalfotos der Befreiung direkt an den Standorten, an denen sie aufgenommen wurden – ergänzt um Audioeinspielungen von Häftlingen, Befreiern und Journalist:innen. 

Konkurrenz zu „offiziellen“ Narrativen

Die Beispiele veranschaulichen, wie Zeitzeugnisse und historische Orte in der Vermittlungsarbeit wichtige Träger von Authentizität werden können. Nutzerzentrierte oder gar nutzergenerierte Formate in der historischen Vermittlung zeigen, dass die Praktiken des Erinnerns durch die digitalen Technologien selbst verändert werden. Diese machen es möglich, Inhalte schnell, in mehreren Sprachen und weltweit zu veröffentlichen. Soziale Medien erlauben es einer großen Zahl von User:innen, Medien selbst kostenlos und damit niedrigschwellig zu produzieren, zu verbreiten und zu interagieren. Das – nicht unumstrittene – Social-Media-Projekt @ichbinsophiescholl von SWR und BR, das User:innen in nachempfundener Echtzeit in die letzten Monate im Leben der Widerstandskämpferin mitnahm, hatte über 600.000 Follower:innen, die in den Kommentarspalten am Schicksal Scholls rege Anteil nahmen.

Diese Vermischung der Nutzung und Bereitstellung von Inhalten (Content) ist zentrales Kennzeichen digitaler Erinnerungskulturen. Die Erinnerungskultur wird dadurch um neue Perspektiven erweitert, die unter Umständen auch in Konkurrenz zu „offiziellen“ Narrativen treten können oder diese ergänzen und erweitern. So ist es auch möglich, dass dadurch bislang wenig gehörte Communities eine Stimme bekommen.

Viele offene Fragen

Die neue Erinnerungskultur ist also: technologischer, diverser und partizipativer. Doch ist sie damit auch automatisch besser? Auf jeden Fall stellt sie uns vor neue Herausforderungen. Neben Fragen der technischen Weiterentwicklung gehört der Aushandlungs- und Verständigungsprozess über Risiken und ethische Grenzen mittlerweile zum Auftrag historisch-politischer Bildner:innen: Wie viel „Fiktion“ ist erlaubt, wenn historische Fakten und Biografien von realen Menschen erzählt werden? Wie stark dürfen digitale Zugänge durch das eigene Miterleben emotionalisieren, gar überwältigen? Wie bebildern oder veranschaulichen, wenn das historische propagandistische Foto- und Filmmaterial Täterblicke wiedergibt und Stigmatisierungen reproduziert? Wie anfällig sind partizipative Zugänge für Missbrauch und Geschichtsrevisionismus?

Wie umgehen mit problematischen Plattformen und Technikkonzernen – Stichworte Datenschutz, Transparenz, Desinformation und neue hybride Formen der Propaganda? Wie inklusiv ist digitales Erinnern, wenn neben funktionierendem W-LAN mitunter auch kostenintensives Zubehör wie VR-Brillen erforderlich ist? Wie gesellschaftsfähig ist digitales Erinnern, wenn wir zwar neue Zielgruppen dazugewinnen, aber viele auch abhängen oder gar abschrecken?

Nutzung digitaler Zugänge nimmt zu

Die lange Liste der Fragen zu digitaler Erinnerungskultur, die aktuell diskutiert werden, macht deutlich: Nicht alles, was technisch möglich ist, ist erinnerungstechnisch auch sinnvoll. Hinzu kommt: Nach Erkenntnissen von MEMO, der Studie zur Erinnerungskultur der Universität Bielefeld und der Stiftung EVZ, ist die Akzeptanz digitaler Formate in der Bevölkerung noch ausbaufähig: Die Auseinandersetzung mit NS-Geschichte erfolgt vorrangig über Filme (75 Prozent) oder im Gespräch mit Familie und Freund:innen (70 Prozent). Digitale Zugänge, wie digitale Zeitzeug:innen, Computerspiele oder Blended-Learning-Angebote, sind hingegen noch nicht stark vertreten (10 Prozent oder weniger). Allerdings: Ihre Nutzung nimmt bei jüngeren Befragten erwartungsgemäß zu.

Die Förderung digitaler Erinnerungspraxis und das Ausloten von neuen Ansätzen setzt also voraus, dass man die Zielgruppe genau kennt. Stiftungen, die sich hier engagieren möchten, finden ein breites und innovatives Betätigungsfeld in der Verbindung digitaler und physischer Räume und neuartiger Kooperationen zum Beispiel von Zeitzeug:innen, Historiker:innen und Citizen Scientists.

Mit ihren Projekten im Cluster „Bilden in digitalen Lernräumen“ ist die Stiftung EVZ Mitgestalterin des digitalen Wandels im Feld der historisch-politischen Bildung. Wir fördern Kooperationen aus Bildung und Technologie, stoßen Innovationen an und stärken die digitale Zivilgesellschaft. Wir laden andere Stiftungen ein, sich uns anzuschließen! Wie? Indem sie zum Beispiel Teil der Plattform „Digital Collective Memory“, werden, die wir gemeinsam mit dem Think Tank iRights.Lab betreiben. Diese Plattform bietet ein Forum, um mit uns gemeinsam die oben genannten Fragen zu debattieren, in Projekten auszuloten und Handreichungen für andere Akteure zu entwickeln.

Kurzvideo der Stiftung EVZ zum Cluster „Bilden in digitalen Lernräumen"

Über die Stiftung EVZ

Auftrag der Stiftung EVZ ist es, die Erinnerung an das Unrecht der nationalsozialistischen Verfolgung lebendig zu halten, die daraus erwachsende Verantwortung im Hier und Heute anzunehmen und die Zukunft aktiv zu gestalten. Zentrales Motiv der Stiftungsgründung im Jahr 2000 war die Auszahlung humanitärer Ausgleichsleistungen an ehemalige Zwangsarbeiter:innen des NS-Regimes - ein Meilenstein der deutschen Aufarbeitung. Heute fördert die Stiftung über ihre Handlungsfelder Bilden und Handeln Projekte und Aktivitäten, die den Überlebenden nationalsozialistischer Verfolgung, der Völkerverständigung und der Stärkung von Menschenrechten dienen.

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