
Bürgerstiftungen in der Ukraine: Resilienz in Kriegszeiten
Seit dem Beginn des Angriffs auf die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 geben ukrainische Bürgerstiftungen ihr Bestes, um unter schwierigen Umständen ihre Gemeinden zu unterstützen.
Ein Gastbeitrag von Viktoriia Zablotska, Projektmanagerin Philanthropy House, National Network of Local Philanthropy Development.

Über die Autorin

Viktoriia Zablotska, Projektmanagerin Philanthropy House, National Network of Local Philanthropy Development
In der Ukraine gibt es zwei Arten registrierter NGOs: öffentliche und gemeinnützige Organisationen. Beide können steuerbegünstigt sein, sofern sie den entsprechenden Status erhalten. Bürgerstiftungen in der Ukraine haben keinen eigenständigen gesetzlichen Rahmen, sie können als öffentliche oder auch als gemeinnützige Organisation registriert sein. Insofern sich Bürgerstiftungen in der Ukraine eher als eine Organisationsstruktur zu verstehen, nicht als Rechtsform. Sie entstanden vor allem durch die School of Community Foundations der ukrainischen NGO ISAR Ednannia und der US-amerikanischen Mott Foundation. Im Jahr 2014 schlossen sich die Bürgerstiftungen in einem Netzwerk zusammen, um deren Arbeit zu unterstützen und neue Bürgerstiftungen entstehen zu lassen. So bildete sich das National Network of Local Philanthropy Development, das derzeit 15 Bürgerstiftungen vereint und 2024 eine neue School of Community Foundations ins Leben gerufen hat.
Bis Februar 2022 stammten etwa 70 Prozent der finanziellen Mittel von Bürgerstiftungen aus ukrainischen und nur 30 Prozent aus internationalen Quellen. Inzwischen hat sich das Bild umgekehrt und ein Großteil der Finanzierung stammt heute von internationalen Partnerorganisationen: u. a. Mott Foundation, Global Fund for Community Foundations (GFCF), Global Giving, Fondation de France, Robert Bosch Stiftung, und weitere.
Wir haben mit Vertreterinnen von drei ukrainischen Bürgerstiftungen gesprochen, um uns ein umfassendes Bild von ihrer Arbeit zu machen: die Bürgerstiftung „Sachyst” in Cherson (die Gemeinde war bis November 2022 unter russischer Besatzung und befindet sich aktuell nur zwei Kilometer von der Frontlinie entfernt), die Bürgerstiftung „Toloka” in Charkiw (nahe der Frontline) und die Bürgerstiftung „Podilska Hromada” in der Zentralukraine (die aber dennoch von wiederholten Angriffen betroffen ist).
Bürgerstiftung „Sachyst" in Cherson

Mit dem Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine vor drei Jahren konzentrierte sich die Stiftung mit ihrer Arbeit vor allem auf humanitäre Hilfe. Sie unterstützt sowohl diejenigen, die in Cherson geblieben sind, als auch diejenigen, die gezwungen waren, das Land zu verlassen. Dabei arbeitet die Stiftung mit örtlichen Behörden zusammen, die insbesondere bei der Bedarfsermittlung helfen. So hat die Stiftung beispielsweise eine Schutzmauer aus Betonblöcken vor sozialen Einrichtungen in Cherson errichtet.
„Das Vertrauen der Gemeinschaft, der Behörden und der lokalen Medien hat sich verändert. Wir sind jetzt eine der bekanntesten zivilgesellschaftlichen Organisationen in unserer Region“, sagt Larysa Polska, Leiterin der Bürgerstiftung.
Laut Polska steckt eine der größten Herausforderungen momentan im wirtschaftlichen Niedergang und seinen Auswirkungen auf die Bevölkerung. Dadurch werden die Möglichkeiten, die Zivilgesellschaft und die gemeinnützigen Organisationen zu unterstützen, eingeschränkt. Eine weitere Herausforderung ist die Zersplitterung der Bevölkerung: So ist die Einwohnerzahl von Cherson seit der Invasion im Jahr 2022 von 300.000 auf etwa 70.000 gesunken.
Die Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, die (ehemaligen) Einwohner*innen Chersons im Rahmen eines Online-Austauschformats zusammenzubringen, um sie zur Rückkehr zu motivieren. Zu diesem Zweck hat sie die Webplattform „Hear the Kherson Community“ eingerichtet, die aktuelle Informationen über Veranstaltungen, Ankündigungen und Notfallkontakte bereitstellt. Vor allem aber ermöglicht die Plattform der Stiftung die Durchführung regelmäßiger Umfragen, um die Bedarfe der Bevölkerung von Cherson zu ermitteln.
„Wir werden nach Cherson zurückkehren, und es wird eine Menge Arbeit auf uns zukommen, um unsere Gemeinschaft wieder aufzubauen. Wir investieren bereits in unseren Wiederaufbau – wir organisieren Diskussionsrunden, unterstützen kulturelle Programme und planen unsere Schritte für die Zeit nach dem Sieg”, sagt Polska.
„Wir haben schon vor der Invasion 2022 eng mit dem Deutschen Kinderhilfswerk zusammengearbeitet. Zwei Jahre lang haben wir gemeinsam sogenannte Friedensschulen durchgeführt und Schüler und Schülerinnen in der Region Cherson unterrichtet. Dank dieser Partnerschaft unterstützen wir nun Familien mit Kindern aus Cherson“, fügt Polska hinzu. Die Stiftung arbeitet auch mit Partnerinstitutionen zusammen und kann so die Gemeinde unterstützen, die nur zwei Kilometer von den russischen Streitkräften entfernt liegt.
Bürgerstiftung „Toloka" in Charkiw

„Mit dem Beginn des Angriffskriegs 2022 erweiterte sich unser Arbeitsbereich erheblich. Wir verstärkten unsere Unterstützung für das Militär und begannen, humanitäre Hilfe zu leisten, da unsere Gemeinde zu denjenigen gehört, die gefährdete Bevölkerungsgruppen aufnimmt. Wir begannen auch, medizinische Einrichtungen zu unterstützen. Im Jahr 2022 war diese Unterstützung situativ, aber inzwischen führen wir umfassende Programme durch, einschließlich der Renovierung von Einrichtungen, der Beschaffung von Ausrüstung und mehr. Derzeit machen humanitäre Projekte 40 Prozent unseres Budgets aus, gefolgt von Bildung und Kultur mit 37 Prozent und der Stärkung des Stiftungsbetriebs mit 8 Prozent”, sagt Maria Horbonos, Leiterin der Bürgerstiftung.
Seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Jahr 2014 hat der ukrainische Gesetzgeber den Bereich „Förderung der Verteidigungsfähigkeit und Mobilisierungsbereitschaft des Landes, Schutz der Bevölkerung in Notsituationen des Friedens und des Kriegsrechts“ in den Bereich der gemeinnützigen Aktivitäten aufgenommen. Auf dieser Grundlage unterstützen viele ukrainische gemeinnützige Organisationen die Streitkräfte auf unterschiedliche Weise: Einige kaufen Autos, andere Drohnen und Munition, wieder andere weben Tarnnetze und stellen Grabenkerzen her. Die Bedarfe und Ressourcen der Gemeinden variieren je nach ihrer Nähe zur Frontlinie.
Trotz dieser Veränderungen konzentriert sich die Bürgerstiftung in Charkiw weiterhin auf die Unterstützung der Kultur und die Entwicklung der Philanthropie. Die größte Herausforderung ist jedoch die Nähe zur etwa 20 Kilometer entfernten Front, was zu ständigem Beschuss, anhaltendem Luftalarm und Stromausfällen führt, die alle Aspekte des Lebens in der Gemeinde beeinträchtigen.
„Unser Team ist auch sehr verstreut. Seit 2022 haben wir kein einziges persönliches Treffen mit dem gesamten Team mehr gehabt. Wir tun unser Bestes, dies zu kompensieren und uns an die Gegebenheiten anzupassen“, erklärt Horbonos.
In diesen schwierigen Zeiten beruht die Resilienz der Stiftung vor allem auf drei Schlüsselfaktoren: gemeinsame Werte, diversifizierte Finanzierung und Flexibilität.
„Im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Krieg werden wir mit Sicherheit neue Arbeitsbereiche übernehmen. Wir werden vor neuen Herausforderungen stehen, und wir müssen heute damit beginnen, sie anzugehen“, sagt Horbonos über die zukünftige Rolle der Stiftung.
Bürgerstiftung „Podilska Hromada"

Obwohl die Bürgerstiftung „Podilska Hromada“ ihren Sitz im zentralukrainischen Winnyzja hat, hat sich ihre Arbeit auch auf die Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte und humanitäre Hilfe ausgedehnt. Außerdem sind viele neue Organisationen und Freiwilligeninitiativen entstanden, die die Stiftung aktiv unterstützt.
„Unsere Gemeinde kennt uns, und die Menschen kommen von sich aus zu uns. Die Jahre 2022 und 2023 haben unseren Bekanntheitsgrad erheblich gesteigert“, sagt Olena Danilova, Leiterin der Stiftung.
Dank gemeinsamer Werte und eines ausgeprägten Bewusstseins für gemeinsame Ziele bleibt das Team auch in Kriegszeiten resilient.
„Wir werden eine aktive Rolle beim Wiederaufbau der Ukraine spielen – nicht nur in unserer eigenen Gemeinde, sondern auch, indem wir anderen helfen. Uns ist bewusst, dass wir selbst stark und erfahren sind, weshalb wir andere unterstützen müssen. Schon jetzt helfen wir aktiv anderen Stiftungen, wie beispielsweise der Bürgerstiftung in Cherson. Es geht nicht nur darum, humanitäre Hilfe zu leisten, sondern um ein beständiges Engagement und gegenseitige Unterstützung”, erklärt Danilova.
Während eines Raketenangriffs auf Winnyzja im Juli 2022 gehörte die Bürgerstiftung „Podilska hromada“ zu den Ersthelfenden am Ort der Tragödie. Sie aktivierte sofort die lokalen Ressourcen – stellte Helme für die Rettungskräfte bereit, koordinierte Freiwillige für die Beseitigung von Trümmern und sorgte für die Verpflegung der Einsatzkräfte.
„Die Leute waren erstaunt, dass eine Stiftung Zugang zu so vielen verschiedenen Ressourcen haben kann. Und ich habe ihnen gesagt, dass es genau darum bei einer Bürgerstiftung geht. Wir besitzen nicht alle diese Ressourcen, aber wir wissen, wo sie zu finden sind und wen wir anrufen müssen“, sagt Danilova.
Unterstützung für ukrainische Bürgerstiftungen
Die größten Probleme für die Bürgerstiftungen in der Ukraine sind heute der Mangel an finanziellen und personellen Ressourcen, da viele Menschen mobilisiert wurden und viele gezwungen waren, ins Ausland zu gehen. Eine weitere große Herausforderung ist, dass diejenigen, die in der Ukraine geblieben sind, durch den ständigen Stress und die schlaflosen Nächte körperlich und emotional ermüdet sind. Daher konzentrieren wir uns derzeit stark auf die Entwicklung des Human- und Sozialkapitals in der Ukraine und der lokalen Philanthropie sowie auf die Unterstützung derjenigen, die anderen helfen.
Weitere Informationen über ukrainische Bürgerstiftungen, ihre Arbeit und Unterstützungsmöglichkeiten durch das National Network of Local Philanthropy Development: https://www.philanthropy.com.ua/en/
Der Bundesverband Deutscher Stiftungen ist Träger des Bündnis der Bürgerstiftungen Deutschlands und der European Community Foundation Initiative (ECFI) und unterstützt deren Arbeit zur Stärkung, Vernetzung und Weiterentwicklung von Bürgerstiftungen sowohl in Deutschland als auch in ganz Europa. Damit fördert er den Wissensaustausch, das bürgerschaftliche Engagement und die nachhaltige Wirkung von Bürgerstiftungen.
Die Autorin hat diesen Artikel für die Stiftungswelt auf Englisch verfasst. Die englische Fassung finden Sie auf der Webseite der European Community Foundation Initiative (ECFI): Views from the field | ECFI
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