„Im direkten Kontakt funktioniert so viel“

In den „Chancenpatenschaften“ unterstützen ehrenamtliche Mentor*innen benachteiligte Menschen. Einer, der sich für das Programm stark macht, ist der Schriftsteller Christian Baron. In prekären Verhältnissen aufgewachsen, weiß er aus eigener Erfahrung, wie wichtig Hilfe von außen ist. Ein Gespräch über seine Wegbegleiter – und darüber, wie es sich anfühlt, in einem reichem Land arm zu sein.

5 Minuten 14.12.2022
Interview: Lena Guntenhöner
Christian Baron, Journalist und Schriftsteller, im Interview
Christian Baron im Interview
© Britta Steinwachs

Stiftungswelt: Herr Baron, Sie beschreiben in Ihrem Buch „Ein Mann seiner Klasse“ Ihre von krasser Armut geprägte Kindheit im Kaiserslautern der 1990er-Jahre. Heute haben Sie einen Uniabschluss in der Tasche und leben als erfolgreicher Journalist und Schriftsteller in Berlin. Sie sagen selbst, dass Sie diesen Weg nicht allein bewältigt haben. Wer hat Ihnen geholfen?
Christian Baron:
In den verschiedenen Phasen meiner Kindheit und Jugend gab es ganz unterschiedliche Menschen und auch Institutionen, die mir geholfen haben. Zuerst war es die Grundschule, die Lehrerinnen dort haben faktisch auch soziale Arbeit gemacht. Und später gab es Leute im Fußballverein. Unsere Trainerin zum Beispiel hat uns nicht nur das Fußballspielen beigebracht, sondern hat auch genau geguckt, wer wie viel Aufmerksamkeit und Zuspruch braucht. Im Jugendamt, an der Uni, im Freundeskreis – ich hatte immer wieder Menschen, die so etwas wie Mentoren waren, ohne dass sie sich als solche bezeichnet hätten. Zu ganz vielen von ihnen habe ich heute noch Kontakt.

Wie sah diese Hilfe konkret aus, können Sie ein Beispiel nennen?
Als meine Mutter schwer krank wurde, stand eines Tages meine Grundschullehrerin bei uns vor der Tür, unangemeldet, was ja eigentlich nicht geht. Die Ironie des Schicksals war, dass die Tür zu dieser Zeit kaputt war, weil mein Vater sie im Suff zertrümmert hatte. Meine Lehrerin stand also eh schon vor offener Tür. Meine Tante, die meine Mutter zu dieser Zeit gepflegt hat, hätte natürlich zu ihr sagen können: Sie gehen jetzt mal wieder und melden sich an, bevor Sie wiederkommen! Stattdessen, so sagt sie heute, hat die Art, wie meine Grundschullehrerin kommuniziert hat, in ihr ein tiefes Gefühl des Vertrauens ausgelöst. Sie hat nämlich keine Vorwürfe gemacht und gefragt: Warum ist das denn hier so chaotisch? Wieso ist die Tür nicht repariert? Sondern ihre erste Frage war: Wie kann ich Ihnen helfen?

Haben Sie die Hilfe im Laufe Ihres Lebens immer angeboten bekommen oder haben Sie auch aktiv danach gefragt?
In der Grundschule, und das war ja das Initialerlebnis, sind die Lehrerinnen von sich aus auf meinen Bruder und mich zugekommen. Wir haben strikt darauf geachtet, dass wir möglichst keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Dadurch sind wir diesen Leuten aber umso mehr aufgefallen. Im späteren Leben habe ich mir, vielleicht aufgrund dieser positiven Erfahrung, immer wieder mal gezielt Hilfe gesucht. In der gymnasialen Oberstufe habe ich zum Beispiel nach einem Lehrer Ausschau gehalten, dem ich mich anvertrauen kann. Und der hat später sogar meine Studienwahl beeinflusst. Aber um Unterstützung zu bitten, das musste ich lernen. So ein Grundvertrauen in die Umwelt muss, glaube ich, schon gesät werden.

Über welche Eigenschaften oder Kenntnisse sollten ehrenamtliche Paten und Mentorinnen verfügen?
Ich bin ganz oft Menschen begegnet, die ihrem ersten Eindruck misstrauen und in der Lage sind, kontraintuitiv zu denken. Um ein Beispiel aus der Grundschule zu nennen: Es gab einen Rowdy bei uns in der Klasse, und ich als der Schüchterne bin dem im zweiten Schuljahr einmal ins Visier geraten. Er hat mich provoziert und geschlagen, und da ist mir die Faust ausgerutscht. Er hat im Gesicht geblutet, die Religionslehrerin stand in der Tür und hat mich gefragt: Hast du ihm eine reingehauen? Ich habe genickt und gedacht, dass jetzt mein letztes Stündlein geschlagen habe. Und dann applaudierte sie – und die ganze Klasse mit.

Das ist in der Tat ungewöhnlich.
Auf jeden Fall. In ethischer Hinsicht war dieser Applaus natürlich durchaus problematisch. Aber mir hat die Reaktion der Lehrerin wahnsinnig geholfen. Sie hatte die Sensibilität dafür, den Kontext zu berücksichtigen. Meine Mentoren hatten zudem alle ein großes Durchhaltevermögen und ein Bewusstsein für die gesellschaftlichen Funktionssysteme. In meinem Fall hätten sie es sich auch leicht machen und sagen können: Dieser Junge ist einfach ungebildet. Stattdessen haben sie erkannt, dass wir in einem sehr ungerechten Bildungssystem leben, in dem Kinder wie ich stark benachteiligt werden. Ganz wichtig ist auch, das Positive in den Mittelpunkt zu rücken. Also sein Gegenüber immer mal wieder aufzufordern: Denk doch mal drüber nach, was du richtig gut kannst! Stärken und Neigungen können sich natürlich ändern, aber es gibt immer etwas, das einem einfällt. 

Was sollten Patinnen und Paten über Armut wissen?
Wenn man arm ist, gibt es eine sehr strikte innere Welt – und die wird auch verteidigt. Denn diese innere Welt erscheint als verlässlich, während die äußere Welt als potenziell bedrohlich wahrgenommen wird. Wenn mein Vater betrunken war und gewalttätig wurde und daraufhin die Polizei kam, hat das die Lage nicht automatisch verbessert. Weil die Beamten meinen Vater vielleicht malträtiert haben. Als von Armut betroffener Mensch nimmt man zwar wahr, dass es da draußen ein Normal gibt. Zugleich ist dieses Normal aber für einen selbst völlig unnormal. Dieses Misstrauen zu durchbrechen ist nicht einfach.

Wie hat es bei Ihnen geklappt?
Indem die Leute immer irgendwo an meinem Alltag angedockt haben und mir auf Augenhöhe begegnet sind. Als Jugendlicher fand ich es zum Beispiel toll, wenn sich der Mitarbeiter vom Jugendamt mit mir nicht in einem teuren Café getroffen hat, sondern im Fußballstadion. Das hat sofort bei mir gewirkt, da dachte ich gleich: Der kennt meine Welt, das ist einer von uns. 

Sind Sie inzwischen selbst Mentor für andere?
Ja, ich rutsche da manchmal auch unfreiwillig hinein. Im Freundeskreis versuche ich das anzuwenden, was mir selber geholfen hat. Wenn ich dann noch mitkriege, dass das über die Jahre etwas bewirken kann, macht mich das unglaublich glücklich. Bei allem, was unsere Politik kaputt macht, ist es schön zu sehen, dass im direkten Kontakt noch so viel funktionieren kann. Und es ist offensichtlich, dass sich dadurch viele Vorurteile abbauen lassen, auf beiden Seiten. Der soziale Frieden in unserer Gesellschaft hängt davon ab, wie sehr es uns gelingt, diese Begegnungen zwischen ganz unterschiedlichen Lebensrealitäten zu ermöglichen. 

Und in der Familie? Sie haben drei Geschwister, Tanten und Onkel – werden Sie von denen manchmal zurate gezogen?
In der eigenen Familie ist das schwieriger, weil ich dort als derjenige gelte, der sich aus dem Staub gemacht hat. Da bekomme ich dann schon mal zu hören: Du denkst jetzt, du müsstest uns hier irgendwas vorschreiben! Oft werde ich als Mentor wieder zugelassen, wenn zum Beispiel Widerspruch eingelegt werden muss beim Amt. Das ist mir auch erst mit der Zeit aufgegangen, wie wichtig diese Verwaltungskompetenz ist. Menschen, die in Armut aufwachsen, oder Geflüchtete, die die Sprache nicht beherrschen, sind der Macht der Ämter ja komplett ausgeliefert. Wenn man dann jemanden dazwischenschaltet, der sagt, diesen Antrag füllen wir jetzt in Ruhe aus, dann macht das sehr viel aus, das darf man auf keinen Fall unterschätzen.

Bildungsaufsteiger wie Sie sind die idealen Mentoren, da sie durch den eigenen Werdegang oft eine große Glaubwürdigkeit und Empathie mitbringen. Nur: Wo und wie findet man sie?
Ich glaube, dass sich da seit einigen Jahren etwas tut. Selbst Leute wie ich, die den „Aufstieg“ geschafft haben, wollten ja jahrelang nicht, dass man merkt, wo sie herkommen. Durch Schriftsteller wie Annie Ernaux und Didier Eribon, die sich so offen verwundbar machen, indem sie sich zu ihrer Herkunft bekennen, sprechen jetzt immer mehr Menschen über das Thema – auch außerhalb des Kulturbetriebs. Und auch was die Vernetzung angeht, ist einiges in Bewegung. An immer mehr Unis wurden Referate für Anti-Klassismus eingerichtet. Und auch in Gewerkschaften, vor allem in den Jugendorganisationen, gibt es Sektionen, die genau solche Menschen zusammenbringen. Inzwischen ist in allen Gesellschaftsbereichen ein Bewusstsein dafür da, dass kein Diversity-Konzept vollständig ist ohne die Dimension der Klasse.

 

Über den Gesprächspartner

Porträt Christian Baron
Christian Baron
© Britta Steinwachs

Nach dem Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Trier arbeitete Christian Baron mehrere Jahre als Zeitungsredakteur. 2020 erschien sein literarisches Debüt „Ein Mann seiner Klasse“, für das er mehrfach ausgezeichnet wurde. Zuletzt veröffentlichte er den Roman „Schön ist die Nacht“ (2022), in dem er die Geschichte seiner beiden Großväter erzählt. Seit Herbst 2022 ist Baron Testimonial des Programms „Menschen stärken Menschen – Chancenpatenschaften“.

Über das Programm „Menschen stärken Menschen – Chancenpatenschaften“

Das Bundesprogramm „Menschen stärken Menschen“ wurde 2016 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) für die Begleitung von Geflüchteten ins Leben gerufen. Zwei Jahre später öffnete sich das Programm, das vom Bundesverband Deutscher Stiftungen mitgetragen wird, mit den „Chancenpatenschaften“ für weitere Menschen in benachteiligenden Lebenssituationen. Durch regelmäßige Treffen und eine individuell angepasste Unterstützung gelten Patenschaften als besonders wirkungsvolles Instrument zur Erhöhung der Teilhabechancen. 

Mehr Informationen: www.stiftungen.org/chancenpatenschaften

Diskussion ( 1 )


Gut geführtes Interview. Schon erstaunlich, dass ein Mensch mit solch einem Hintergrund so positiv über unser Bildungssystem redet. Da ich Gesamtschullehrer war, wäre es noch interessant zu wissen, auf welcher weiterführenden Schule Herr Baron war. Da Herr Baron sehr viel über seine Grundschulzeit redet, wären seine Erfahrungen in der Sekundarstufe I ebenfalls sehr hilfreich.

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