„Stiftungen dürfen keine Berührungsängste haben“

Aus dem Bildungsministerium ins Stiftungswesen: Seit Oktober 2022 ist Matthias Graf von Kielmansegg Geschäftsführer der Vodafone Stiftung. Wir sprachen mit dem Quereinsteiger darüber, wie er den Stiftungssektor erlebt, welche Fehler Stiftungen im Umgang mit der Politik nicht machen sollten und warum sich die Vodafone Stiftung jüngst mit einer Kampagne ins umstrittene soziale Netzwerk TikTok gewagt hat.  

7 Minuten 17.02.2023
Interview: Nicole Alexander

Stiftungswelt: Herr von Kielmansegg, vor Ihrem Wechsel zur Vodafone Stiftung im Oktober 2022 waren Sie als Abteilungsleiter im Bundesministerium für Bildung und Forschung nah dran an der Politik und hatten direkten Einfluss auf bildungspolitische Entscheidungen. Haben Sie schon Entzugserscheinungen?
Matthias Graf von Kielmansegg:
(lacht) Nein. Als Geschäftsführer der Vodafone Stiftung habe ich die Möglichkeit, handfeste Bildungsarbeit zu gestalten. Und weil es kaum Transformationsebenen dazwischen gibt, erlebe ich viel unmittelbarer, welche Auswirkungen die eigene Arbeit hat. Das finde ich sehr spannend und bereichernd. Wenn man wie ich sehr lange in der Ministerialverwaltung tätig ist, muss man aufpassen, den Kontakt zu dem, was in der Realität vor Ort passiert, nicht zu verlieren. Man schöpft eigentlich aus den Erfahrungen fremder Leute oder aus eigenen Erfahrungen, die sehr weit zurückliegen. Das ist in meiner neuen Position bei der Vodafone Stiftung anders.

Dort sind Sie für die strategische Weiterentwicklung und operative Führung der Stiftung verantwortlich. Was reizt Sie an dieser Aufgabe?
Die Möglichkeit, auszuprobieren, wie gute Bildung an Schulen und überhaupt in der jungen Generation funktionieren kann – und zwar gemeinsam mit den Akteuren vor Ort: den Lehrkräften, den Schülerinnen und Schülern, den Eltern und allen, die sonst noch daran mitwirken. Also Innovation voranzutreiben und als eine Art Thinktank in bildungspolitische Debatten einzusteigen, die es wert sind, auch durchaus strittig ausgetragen zu werden. Mit anderen Worten: manchmal mit dem Finger dorthin zu zeigen, wo echte Probleme ein bisschen schöngeredet werden.

Ein Beispiel?
Die Schule soll Basiskompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen vermitteln, darin sind sich wohl alle einig. Hinzu kommt aber immer stärker die Erwartung, dass sie den Kindern bereits im frühen Alter auch digitale Fertigkeiten wie informatorische Grundkenntnisse nahebringt. Und da steht nun die Lehrkraft vor ihrer zunehmend heterogen zusammengesetzten Klasse und soll all diese Anforderungen erfüllen, obwohl sie weiterhin eine einzige Person ist und der Tag weiterhin nur 24 Stunden hat. Diese Rechnung kann einfach nicht aufgehen. Die Schulen leiden unter einem riesengroßen Erwartungsdruck und sollen auch noch drängende gesellschaftliche Probleme lösen. Das ist ein unausgesprochener Konflikt, der offen thematisiert werden sollte.

„Stiftungen können innovative Schnellboote sein.“

Als Quereinsteiger aus der Politik haben Sie einen frischen Blick auf den Stiftungssektor. Ihr Eindruck?
Der Sektor ist unglaublich vielfältig und zeigt, wie viel es an Bewegung gibt in der Bürgergesellschaft. Ich nehme aber auch wahr, dass Stiftungen manchmal etwas brauchen, bis sie ein präzises Verständnis dafür haben, an welchen Schlüsselstellen wirklich etwas verändert werden kann. Und dass es bestimmte Rahmenbedingungen gibt, bei denen es besser ist, sie zu akzeptieren, als mit dem Kopf gegen die Wand zu laufen.

Welche Rahmenbedingungen meinen Sie?
Die des Föderalismus zum Beispiel. Deutschland ist föderal aufgebaut und wird immer einen Bildungsföderalismus haben. Da hat es wenig Sinn, Konzepte zu entwerfen, die davon ausgehen, dass er abgeschafft wird. Das wird er nicht, das ist verfassungsrechtlich gar nicht zulässig.

Wollen Sie damit sagen, dass Sie Bildungsstiftungen kennengelernt haben, die den Föderalismus ignorieren oder in Frage stellen?
Nein, aber ich stelle fest, dass sie sich nicht immer fragen, ob ihre Konzepte unter den föderalen Bedingungen überhaupt skalierbar sind. Es ist natürlich nicht so, dass Stiftungen nicht wissen, wer auf welcher politischen Ebene welche Kompetenzen hat und wer welche Gelder zur Verfügung stellt. Doch mein Eindruck ist, dass sie dieses Wissen stärker einbeziehen könnten in ihre Überlegungen, wie sie andere aus ihren Förderprojekten lernen lassen können.

Was könnte umgekehrt die Politik tun, um den Austausch mit Bildungsstiftungen zu intensivieren und von deren Expertise zu profitieren?
Die Politik könnte häufiger auf das zugreifen, was Stiftungen tatsächlich an praktischen Erfahrungen sammeln. Und sie könnte gezielter mit ihnen verabreden, dass bestimmte neue Ansätze auch erprobt werden. Denn die Politik arbeitet unter dem Gleichheitsgrundsatz und mit Gesetzen, die für alle gelten. Mit diesem Instrumentarium ist es schwierig, Vorweglösungen zu erproben. Genau das wäre aber sinnvoll, um herausfinden, ob das geplante Vorgehen auch wirklich ein guter Weg hin zur angestrebten Gesamtlösung ist. Dafür könnten Stiftungen gezielter eingesetzt werden.

Passiert das denn nicht?
Zum Teil schon. Es könnte aber meiner Meinung nach strategischer erfolgen, um sich auf die großen Felder zu konzentrieren, die in der Bildungspolitik auf dem Tisch liegen: Lehrermangel, unzureichende digitale Ausstattung der Schulen und die Lernrückstände, die durch die Schulschließungen während der Corona-Pandemie entstanden sind. 

Stiftungen als Versuchslabor für innovative Lösungen im Bildungsbereich?
Genau. Stiftungen können innovative Schnellboote sein, sie müssen nicht warten, bis sich ein großer Tanker in Gang setzt. Aber es ist wichtig, dass sie von ihrer praktischen Stiftungsarbeit in einem zweiten Schritt abstrahieren: Was davon sind übertragbare Erfahrungen und was sind Gelingensbedingungen, die nicht nur deswegen funktioniert haben, weil die Stiftung über Geld verfügt und sich in ihren Projekten lauter gutmeinende und engagierte Akteure zusammenfinden. Umgekehrt brauchen auch die Schulen mehr Bewegungsspielräume.

„Schulen brauchen mehr Bewegungsspielräume.“

Was meinen Sie damit?
Wir sehen zum Beispiel, wie schwer sich die Schulen tun, gute digitale Bildungsinhalte und -instrumente einzuführen, die aus der jungen kreativen Landschaft der Bildungsunternehmen angeboten werden. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen: begrenzte finanzielle Ressourcen, Fragen des Datenschutzes, mangelnde Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte, die mit diesen Instrumenten arbeiten sollen. Doch wenn wir warten, bis das alles von ganz weit oben verordnet wird, wird es nie in Gang kommen. Daher plädiere ich dafür, den Schulen den Freiraum zu geben, sich selbst auf den Weg hin zu digitalen Unterrichtslösungen zu machen. 

Die Digitalisierung bietet für Kinder und Jugendliche allerdings nicht nur Chancen, sondern bringt auch enorme Gefahren mit sich wie etwa Internetsucht oder Cybermobbing. 
Das stimmt. Die Gesellschaft ist weiterhin in einem sehr schwierigen Aushandlungsprozess, eine gute Balance zu finden zwischen Digitalem und Analogem. Und wir wissen, dass es für Jugendliche ein großer Angang ist, diese Balance zu finden und digitale Tools vor allem dann zu verwenden, wenn sie für sie selbst nützlich sind, und nicht aus einem Gruppenzwang heraus oder weil sie Ablenkung versprechen.

Wie stellt sich die Vodafone Stiftung ihrer besonderen Verantwortung, die ihr als Stiftung eines großen Mobilfunkanbieters beim Umgang mit diesen Gefahren zukommt?
Ende letzten Jahres beispielsweise durch unsere #J0M0-Kampagne auf TikTok, die darauf abzielte, Jugendliche selbstbewusster und selbstbestimmter im Umgang mit den sozialen Medien zu machen.

Wie das?
Indem sie mit Influencern arbeitete, die in ihren Videos auch manchmal etwas überzeichneten, was passiert, wenn man die ganze Zeit in den sozialen Medien unterwegs ist und überflutet wird von Informationsfetzen. Und die ihre Userinnen und User fragten: Brauchst Du das eigentlich? Fühlst Du Dich am Ende des Tages gut und wäre nicht weniger mehr? An der großen Zahl der Aufrufe mit über zehn Millionen Klicks kann man sehen, dass diese Kampagne offensichtlich ein Bedürfnis traf. Das liegt sicherlich auch daran, dass die Influencer von den Jugendlichen als akzeptable Botschafter wahrgenommen wurden.

Keyvisual der J0M0-Kampagne der Vodafone Stiftung auf TikTok
© Vodafone Stiftung Deutschland

Mit TikTok nutzten Sie für die Kampagne ein soziales Netzwerk, das sehr umstritten ist, unter anderem wegen seines mangelnden Kinder- und Jugendschutzes. Ist das für eine Bildungsstiftung wie die Ihre nicht ziemlich heikel?
Da habe ich keine Berührungsängste, die dürfen Stiftungen auch nicht haben. Wir müssen schon dorthin gehen, wo wir die Jugendlichen erreichen, die wir zum Nachdenken bringen wollen. Mit Predigten in der Kirche erreicht man nur diejenigen, die schon bekehrt sind.  

Abgesehen von der Zahl der Aufrufe, die Sie gerade genannt haben: Wie haben Sie die Wirkung der Kampagne gemessen?
Wir haben im Nachgang eine repräsentative Erhebung durchgeführt und diejenigen, die TikTok nutzen, befragt: Habt Ihr die Kampagne wahrgenommen? Wie habt Ihr diese wahrgenommen? Habt Ihr den Eindruck, dass sie etwas bei Euch bewirkt hat? Habt Ihr mit anderen darüber gesprochen? Hier haben über die Hälfte der Befragten bestätigt, dass diese Art von Videos geeignet ist, um Jugendliche in ihrem Social-Media-Konsum zu sensibilisieren, und dass sie die Videos dazu motiviert haben, kritischer mit Inhalten auf Social Media umzugehen. Außerdem überlegen wir, aus der Kampagne Material für den Schulunterricht zu entwickeln.

„Es ist eine gemeinsame große Suche.“

Inwieweit schauen Sie bei der Entwicklung solcher Kampagnen und Projekte auch über den nationalen Tellerrand? Gibt es einen inhaltlichen Austausch etwa mit den Vodafone Stiftungen in anderen europäischen Ländern?
Den gibt es. So haben wir etwa kürzlich für unsere Bildungsinitiative „Coding For Tomorrow“ Inhalte aus Ungarn übernommen. Die mussten natürlich angepasst werden, sprachlich, aber auch an unser Bildungssystem. Bei uns haben wiederum die Niederländer und die Italiener angefragt, weil sie Interesse an Inhalten von uns haben.

Werden Sie bei diesem Austausch manchmal neidisch auf die Kolleginnen und Kollegen in anderen europäischen Ländern, die in Sachen digitale Bildung weiter sind als Deutschland?
Nein, nicht wirklich. Natürlich gibt es Länder, die technisch weiter sind als wir. Aber was gute digitale Bildung angeht, stehen alle vor ähnlichen grundlegenden Fragen und Herausforderungen. Auch wenn die Schulsysteme ganz unterschiedlich sein mögen: Die Art und Weise, wie Digitalität auf Bildungsprozesse, auf junge Menschen und auf Lehrkräfte wirkt, ist überall ähnlich. Und noch hat niemand den idealen Weg gefunden, damit umzugehen. Es ist eine gemeinsame große Suche.

Über den Gesprächspartner

Matthias Graf von Kielmansegg
© Vodafone Stiftung Deutschland

Matthias Graf von Kielmansegg ist seit Oktober 2022 einer von drei Geschäftsführern der Vodafone Stiftung Deutschland. Zuvor leitete der Jurist acht Jahre lang die Abteilung Grundsatzfragen und Strategien im Bundesministerium für Bildung und Forschung.  

Über die Vodafone Stiftung Deutschland

Die Vodafone Stiftung ist eine der großen unternehmensverbundenen Stiftungen in Deutschland. Selbsterklärter Anspruch der Stiftung ist es, sich in gesellschaftspolitischen Debatten zu engagieren, Bildung für die digitale Gesellschaft neu zu denken und innovative Bildungsangebote zu entwickeln. 

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