Vielfalt stiften – neue Perspektiven für den Stiftungssektor
„Ich wünsche mir einen Stiftungssektor, der erkennt, wie viel Kraft in marginalisierten Erfahrungen steckt – und sichtbar macht, wer dazugehört und wer künftig mitentscheiden wird.“ Dieses Statement von Imran, einem jungen Stipendiaten des Programms „Vielfalt stiften“ der Deutschlandstiftung Integration, bringt auf den Punkt, warum junge Menschen mit Migrationsbiografien mehr Raum und Stimme im Stiftungswesen brauchen. Hier setzt das Programm an und schafft durch Hospitationen mehr Repräsentation und Teilhabe.

© Stefanie Loos | Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa
Deutschland belegt nach den USA weltweit den zweiten Platz bei der Anzahl von Stiftungen. Mit tausenden Stiftungen – davon allein mehr als 25.000 rechtsfähige Stiftungen bürgerlichen Rechts - prägt das Land maßgeblich das gemeinnützige Engagement in Europa. Doch viele Menschen empfinden Stiftungen als schwer zugänglich und intransparent. So beschreibt es Nevra, Stipendiatin 2024: „Stiftungen wirkten auf mich lange Zeit wie etwas Entferntes, eine Art Black Box. Durch die Hospitation habe ich erkannt, wie vielseitig das Stiftungswesen ist – und dass es viele Bereiche abdeckt, die meinen Interessen und beruflichen Zielen entsprechen.“
Entscheidungsprozesse, Arbeitsweisen und interne Strukturen bleiben für Außenstehende häufig unsichtbar. Besonders junge Menschen mit Migrationsbiografie stoßen auf Hürden, die verhindern, dass ihre Perspektiven und Potenziale Gehör finden und wirksam werden.
Dabei setzen Stiftungen zentrale Impulse in Bereichen wie Bildung, Klima- und Naturschutz, Demokratie, Teilhabe und soziale Gerechtigkeit. Sie wollen möglichst viele Menschen einbeziehen – doch ihre eigenen Teams, insbesondere in Führungspositionen, bilden die gesellschaftliche Vielfalt bislang nur eingeschränkt ab. Stimmen von Menschen mit Migrationsbiografien und weiteren Diversitätsmerkmalen sind oft unterrepräsentiert. Das hat unmittelbare Folgen: für Förderentscheidungen, für Zugänge und für das gesellschaftliche Klima insgesamt.
Meltem, ebenfalls Stipendiatin 2024, formuliert treffend: „Stiftungen setzen sich mit zivilgesellschaftlich relevanten Themen auseinander. Deshalb ist es umso wichtiger, dass sie auch in ihrer eigenen Struktur die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln – leider ist das bislang nur unzureichend der Fall.“ Zwar wächst das Bewusstsein im Stiftungssektor für strukturelle Barrieren – doch viele Einrichtungen bleiben in Herkunft, Bildungsbiografie, Sprache oder Milieu homogen.

© Sven Wied | Deutschlandstiftung Integration
Neue Vorbilder für ein zukunftsfähiges, gerechteres Stiftungswesen
Vor diesem Hintergrund hat die Deutschlandstiftung Integration 2024 das Programm „Vielfalt stiften“ ins Leben gerufen. Ziel ist es, jungen Menschen mit Migrationsbiografien den Zugang zum Stiftungswesen zu erleichtern und dadurch strukturelle Diversität in den Institutionen zu fördern.
Das Programm umfasst dreimonatige Hospitationen bei bundesweit arbeitenden, großen Stiftungen bis hin zu lokal verankerten Stiftungen aller Rechtsformen. Es ermöglicht praxisnahe Einblicke in die Stiftungsarbeit und wird durch ein begleitendes Rahmenprogramm mit Workshops und Seminaren zu Themen wie Empowerment, transkultureller Kompetenz, Netzwerkarbeit, Stiftungspraxis und rechtlichen Grundlagen ergänzt.
Die Förderung richtet sich in erster Linie an junge Menschen, die sich selbst als Personen mit Migrationsgeschichte verstehen oder von außen so wahrgenommen werden. Im Sinne einer intersektionalen Herangehensweise berücksichtigt das Programm darüber hinaus weitere Diversitätsdimensionen wie etwa soziale Herkunft, Behinderung, Queerness, Religion oder Geschlecht. Da sich verschiedene Diskriminierungserfahrungen überschneiden und verstärken können, werden die Kohorten bewusst auf zehn Teilnehmende begrenzt. So ist individuelle Begleitung und gezielte Unterstützung angepasst an die jeweils unterschiedlichen Bedarfe möglich.
Parallel macht die Kampagne #vielfaltstiften marginalisierte Perspektiven sichtbar, insbesondere in den Sozialen Medien: In Porträts und Interviews vermitteln die Teilnehmenden ihre Geschichten, bringen bislang wenig gehörte Stimmen in den öffentlichen Diskurs ein und schaffen neue Vorbilder für ein zukunftsfähiges, gerechteres Stiftungswesen.
Das Programm wird vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) wissenschaftlich begleitet. Die Ergebnisse liefern nicht nur konkrete Handlungsempfehlungen für eine diversitätsorientierte Personal- und Organisationsentwicklung. Sie eröffnen auch einen Raum zur kritischen Auseinandersetzung mit bestehenden institutionellen Strukturen – etwa mit ungeschriebenen Regeln, Machtverhältnissen und Ausschlussmechanismen.

© Pavel Sepi | Deutschlandstiftung Integration
Vielfalt ist kein Selbstzweck
Die Art, wie Stiftungen Zielgruppen definieren und Projekte gestalten oder fördern, erzeugt und verstetigt oft soziale Grenzen. Diese Praxis ist Teil eines breiteren Diskurses. Er zeigt, wie politische und soziale Akteur*innen wie Stiftungen gesellschaftliche Strukturen mitgestalten, ohne selbst demokratisch legitimiert zu sein. Die Arbeit junger Menschen mit Migrationsbiografien im Stiftungssektor bringt frische Perspektiven ein und kann traditionelle soziale Differenzierungen hinterfragen und aufbrechen. Ein divers aufgestelltes Stiftungswesen stärkt im Umkehrschluss Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt – gerade in Zeiten multipler Krisen.
„Arbeitgeber*innen, die diverse Perspektiven aktiv in ihre Arbeit einbringen, sind oft wirkungsvoller, weil sie näher an den Bedürfnissen der Gesellschaft arbeiten, in der sie tätig sind“, betont Naami, Stipendiatin 2024. Sie unterstreicht dadurch: Vielfalt ist kein Selbstzweck, sondern ein entscheidender Faktor für die Wirksamkeit und Relevanz stiftungsbezogener Arbeit. Fatma, Stipendiatin 2024, ergänzt: „Ein Stiftungswesen, das Vielfalt lebt, ist nah an den Menschen und ihrer Lebensrealität. Damit schaffen wir die Basis, um Projekte zu realisieren, die die Vielfalt unserer Gesellschaft anerkennen und zu einer gerechteren Zukunft für alle beitragen – und genau dafür braucht es auch Fatmas in Stiftungspositionen.“ Ihre Worte machen deutlich: Die lebensweltliche Erfahrung, die Diversitätssensibilität und der Mut der Entscheidungsträger*innen selbst sind der Schlüssel, um Barrieren abzubauen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.
Die Aufnahme vielfältiger Perspektiven im Stiftungssektor darf nicht bei bloßer Sichtbarkeit stehenbleiben. Vielmehr gilt es, die eigenen Machtverhältnisse offen zu reflektieren, ungeschriebene Regeln und Gatekeeping-Mechanismen zu hinterfragen sowie Förderlogiken kritisch zu beleuchten. Wer sitzt an den Entscheidungstischen? Wer darf fördern, und wer wird tatsächlich gefördert? Welche Themen und Maßstäbe setzen die Gremien? Und wie offen sind Auswahlprozesse für neue Inhalte? Dabei muss ein intersektionaler Blick alle Diversitätsdimensionen erfassen, um Mehrfachdiskriminierungen sichtbar zu machen und zu vermeiden, dass Vielfalt zum bloßen Symbol wird. Das Programm „Vielfalt stiften“ begleitet diese Fragen bewusst in der Praxis, im Dialog mit Partnerstiftungen und durch wissenschaftliche Auswertung mit dem Ziel, strukturelle Veränderungen nachhaltig zu verankern.
Gemeinsam Vielfalt stiften – Mitmachen erwünscht
Bis dato haben 18 junge Menschen ein „Vielfalt stiften“-Stipendium erhalten. Ihre Hospitationen führten sie unter anderem zur Bertelsmann Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stiftung Mercator, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Deutschen Telekom Stiftung oder Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt. Viele dieser Partnerschaften wurden nicht nur fortgeführt, sondern das Netzwerk wächst stetig und gewinnt durch neue Kooperationen weiter an Stärke und Reichweite. Das Programm wird gefördert von der Robert Bosch Stiftung, der Stiftung Mercator, der Deutschen Postcode Lotterie, der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS sowie der Fritz Henkel Stiftung.
Mikolaj Ciechanowicz, Geschäftsführer der Deutschlandstiftung Integration, betont: „Seit vielen Jahren führen wir Projekte unter der Schirmherrschaft des jeweiligen Bundeskanzlers durch, um die Chancengleichheit von Menschen mit Migrationsbiografie zu stärken. Mit 'Vielfalt stiften' möchten wir die deutsche Stiftungslandschaft inklusiver und diverser gestalten. Nur drei Prozent der Führungskräfte in deutschen Stiftungen haben eine Migrationsbiografie. Das ist zu wenig. Wir wollen das ändern.“
Zum Vergleich: In etwa jede vierte Person in Deutschland hat eine Migrationsgeschichte. Stiftungen haben die Kraft, gesellschaftlichen Wandel mitzugestalten, aber nur, wenn sie selbst bereit sind, Wandel zuzulassen. Reden wir nicht nur über Teilhabe – ermöglichen wir sie. Gemeinsam.
Über die Stiftung
Die Deutschlandstiftung Integration ist eine bundesweit agierende gemeinnützige Stiftung mit Sitz in Berlin. Unter der Schirmherrschaft des Bundeskanzlers setzt sie sich für die Chancengleichheit von Menschen mit Migrationsbiografie in Deutschland ein.
Über das Programm
„Vielfalt stiften“ versteht sich nicht als abgeschlossenes Projekt, sondern als Impuls für eine langfristige strukturelle Transformation im Stiftungswesen. Ihre Stiftung kann den Wandel mitgestalten – jetzt informieren und teilnehmen. Mehr zum Programm und den neuen Ausschreibungen ab August 2025 finden Sie unter: www.vielfalt-stiften.de
Starke Partner*innen für ein diversitätsorientiertes Stiftungswesen:
Robert Bosch Stiftung | Stiftung Mercator | Deutschen Telekom Stiftung | Klaus Tschira Stiftung | B. Braun-Stiftung | Niedersächsische Lotto Sport Stiftung | Bertelsmann Stiftung | Stiftung Preußische Schlösser und Gärten | taz Panter Stiftung | Hans Sauer Stiftung | Stiftung Naturschutz Berlin | Stiftung Preußischer Kulturbesitz | Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt | Bergedorf Bille Stiftung | Stiftung Deutsche Kinemathek | Stiftung Bürger für Bürger | Crespo Foundation
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