„Wir wollen die Herzen erreichen“
Seit 13 Jahren macht der Verein „Zweitzeugen“ Kinder und Jugendliche stark gegen Antisemitismus, gefördert wird er unter anderem von der Haniel Stiftung. Doch nicht nur die neue Dimension des Judenhasses, die derzeit zutage tritt, bereitet Verein und Stiftung Sorgen.
Anfang 20 waren sie und mitten im Studium, da sahen Ruth-Anne Damm und einige ihrer Freundinnen im Fernsehen eine Dokumentation über Holocaust-Überlebende in Israel. Und stellten fest, wie wenig sie über deren Schicksal nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wussten – nicht nur in Israel, sondern auch in anderen Ländern. Ob und wie sie es schafften, sich ein neues Leben aufzubauen, Menschen zu vertrauen, Bildung nachzuholen. Und wie man mit solch traumatischen Erinnerungen überhaupt weiterleben kann. Zudem wurde den Studentinnen klar, dass sie kaum etwas über den Antisemitismus nach 1945 bis heute wussten.
Sie fingen an, nachzufragen. Besuchten Jüdinnen und Juden, die das Grauen der Konzentrationslager, die Schrecken der Existenz im Untergrund, im Widerstand, erlebt und überstanden hatten. „Wir haben 37 Überlebende der Shoah getroffen – in Deutschland, in anderen europäischen Ländern, in Israel“, erzählt Damm, immer noch sichtlich bewegt von diesen Begegnungen. „Manche hielten sich während der NS-Zeit versteckt, manche waren jahrelang auf der Flucht, wieder andere waren bei den Partisanen, viele wurden in Arbeits- und Konzentrationslager deportiert. Und in vielen Fällen sind sie die Einzigen in ihrer Familie, die überlebt haben.“
Schnell war den Studentinnen klar: Diese Geschichten wollen und müssen wir weitererzählen – in Schulen, Sportvereinen und überall dort, wo junge Menschen zusammenkommen. Damit niemals in Vergessenheit gerät, was damals in Deutschland geschah. Und damit die heutige junge Generation weiß, in welcher Verantwortung sie steht, dass dies nie wieder geschieht.
Bislang rund 22.000 Kinder und Jugendliche erreicht
Heute ist aus der Idee längst Wirklichkeit geworden – und Damm Geschäftsführerin des Vereins „Zweitzeugen“. Der Name geht auf den Holocaust-Überlebenden, Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger Eli Wiesel zurück, der einmal sagte, dass all jene, die einem Zeugen der NS-Zeit zuhören, selbst zu Zeugen werden – zu Zweitzeugen gewissermaßen.
Der Name ist Programm: Seit seiner Gründung im Jahr 2010 haben die mehrfach ausgezeichneten „Zweitzeugen“ im Rahmen von Workshops, Ausstellungen und Veranstaltungen rund 22.000 Kinder und Jugendliche erreicht und damit ebenfalls zu Zweitzeugen gemacht, jedes Jahr kommen etwa 6.000 hinzu – vor allem im Raum Duisburg, aber auch darüber hinaus.
Gefördert wird die Arbeit von „Zweitzeugen“ unter anderem von der Haniel Stiftung; ihr Geschäftsführer Rupert Antes gehört inzwischen dem Beirat des Vereins an, dessen Arbeit er gerade in einer migrationsgeprägten Stadt wie Duisburg für enorm wichtig hält. „In einer typischen Duisburger Gesamtschule haben über 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund“, sagt er. „Diese große Diversität bietet enorme Chancen. Zugleich sind wir hier noch mehr gefordert, aufzuklären, zu informieren und auf die Werte und Grundsätze einzugehen, die die Basis für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft bilden.“
144 Ehrenamtliche und 18 Festangestellte sind derzeit für den Verein tätig – und kommen den vielen Anfragen von Schulen und außerschulischen Bildungseinrichtungen kaum hinterher. Schon unter normalen Umständen sind die Workshops sehr intensiv. „Wir arbeiten ja sehr niedrigschwellig, mit Biografien, mit Schicksalen, die man nachvollziehen kann“, erzählt Damm.
Quälende Bilder der Vergangenheit
Wie das von Rolf Abrahamsohn, der 1925 in Marl geboren wurde. Seine jüdischen Eltern hatten ein Textilgeschäft, Rolf war der dritte von insgesamt vier Söhnen. Eine glückliche Kindheit war es und Rolf ein ganz normaler Junge, der leidenschaftlich gern Fußball spielte.
All das änderte sich schlagartig, als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Während der Novemberpogrome 1938 musste Rolf miterleben, wie das Geschäft seiner Eltern zerstört und in Brand gesteckt und sein Vater von der SA halb totgeschlagen wurde. Im Laufe der folgenden Jahre wurde Abrahamsohns gesamte Familie im KZ ermordet oder starb an Krankheiten.
Er selbst überlebte insgesamt sieben Konzentrations- und Arbeitslager, wog bei seiner Befreiung 1945 nur noch 39 Kilogramm. Obwohl ihm die quälenden Bilder der Vergangenheit zeitlebens keine Ruhe ließen, blieb er nach Kriegsende in Deutschland und setzte sich bis zu seinem Tod im Dezember 2021 für den Wiederaufbau des jüdischen Lebens im Ruhrgebiet ein.
„Wenn wir solche Lebensgeschichten erzählen, wird es in den Workshops oft sehr emotional“, berichtet Damm. „Die Kinder und Jugendlichen sind wirklich ergriffen von dem, was damals passiert ist, das tut mir manchmal richtig weh.“ Zugleich ist sie überzeugt, dass dieser Zugang über die Gefühle genau richtig ist:
„Wir versuchen immer, neben der Vermittlung von Wissen zur NS-Zeit die Herzen zu erreichen. Denn alles, was wir einmal gefühlt haben, das vergessen wir nicht. Und es gibt uns die Chance, für unsere Überzeugung einzustehen und uns für Menschen einzusetzen, die heute Diskriminierung und Verfolgung erfahren. Auf dieser Basis können wir dann Kinder und Jugendliche gut ermutigen, befähigen und begleiten, selbst als neue Zweitzeug*innen für eine lebendige Erinnerung und eine akzeptierende und offene Gesellschaft aktiv zu werden."
Oft erlebe sie, dass es gerade Kindern und Jugendlichen, die selbst bereits Schlimmes wie eine Flucht erlebt haben, helfe, die Biografien von Holocaust-Überlebenden zu hören, da es eben auch „Geschichten von unglaublichem Mut und einer unfassbaren Kraft des Weitermachens sind“.
Absagen einerseits, vermehrte Nachfragen andererseits
Seit den Terroranschlägen der Hamas auf Israel aber hat sich die Situation spürbar verändert. Manche Schulen sagen bereits vereinbarte Workshops kurzerhand ab – mit der Begründung, dass es aktuell eine zu israelkritische Stimmung unter den Jugendlichen gebe und dass es der falsche Zeitpunkt für einen solchen Workshop sei. „Das ist extrem bitter“, sagt Damm. „Denn gerade jetzt müssten wir doch in den Dialog treten und fragen, worin gründet diese Stimmung? Aber das ist natürlich total schwierig.“
„Alles, was wir einmal gefühlt haben, vergessen wir nicht.“
Aus anderen Schulen und Freizeiteinrichtungen wiederum erreichen sie derzeit vermehrt Anfragen. Bei der Arbeit vor Ort ist das Bildungsteam von „Zweitzeugen“ dann oftmals mit einer sehr emotionalen, aufgeheizten Stimmung konfrontiert, manchmal auch mit deutlich antisemitischen Äußerungen. „Der Nahost-Konflikt und ein auf Israel bezogener Antisemitismus waren natürlich schon vorher ein Thema in den Workshops“, erzählt Damm. „Aber seit dem 7. Oktober haben hier die Fragen, Emotionen und vor allem auch unreflektierte Äußerungen deutlich zugenommen.“
Aus der Mitte der Gesellschaft
Um auf die vielen Fake News und Halbwahrheiten, mit denen sie in den Workshops derzeit konfrontiert werden, sachlich fundiert antworten zu können, lässt der Verein seit Kurzem seine haupt- wie ehrenamtlichen Mitarbeitenden von Nahost-Experten fortbilden und lädt auch Lehrerinnen und andere Multiplikatoren ein, an diesen Veranstaltungen teilzunehmen. Außerdem bietet er seinen Mitarbeitenden Coachings an, damit sie über ihre Erlebnisse und Erfahrungen in den Workshops sprechen und sich bei Bedarf psychologisch unterstützen lassen können.
Auch steht der Verein in engem Austausch mit den noch lebenden Zeitzeugen, die durch die Ereignisse seit dem 7. Oktober oftmals retraumatisiert sind, unter schweren Albträumen leiden und unter der entsetzlichen Angst, dass sich die Geschichte wiederholt.
Wichtig ist Damm zu betonen, dass sie nach den Terrorangriffen der Hamas auf Israel auch bei arabischen Kindern mit muslimischem Hintergrund viel Betroffenheit und Empathie erlebt habe. „Gerade in der jetzigen Debatte muss man sehr aufpassen, Muslimen oder Menschen arabischer Herkunft nicht pauschal Antisemitismus vorzuwerfen“, so Damm. Der Judenhass kommt aus der Mitte der Gesellschaft, ist sie überzeugt.
„In den letzten 13 Jahren habe ich immer wieder mit Menschen diskutiert, die behauptet haben, es gebe gar kein Problem mit Antisemitismus in unserer Gesellschaft. Doch spätestens seit dem 7. Oktober merken wir alle, dass er immer noch da und in erschreckender Weise präsent ist. Deswegen ist und bleibt unsere Arbeit so wichtig.“
Förderung verlängert
Das sieht auch Antes so. Der Geschäftsführer der Haniel Stiftung beobachtet mit Sorge, dass AfD-Politiker wie Björn Höcke offen antisemitische Äußerungen von sich geben und sich dadurch die Grenzen des Sagbaren immer weiter nach rechts zu verschieben drohen.
Auch deshalb hat die Haniel Stiftung ihre Förderung von „Zweitzeugen“ vor Kurzem um fünf Jahre verlängert. Für den Verein, den neben der eigentlichen Arbeit immer auch die Sorge um deren mittel- und langfristige Finanzierung beschäftigt, bedeutet das ein Stück Planungssicherheit in einer Zeit, in der der Kampf um öffentliche Fördermittel zunehmend härter wird, wie Damm berichtet.
Eine Entwicklung, die auch Antes umtreibt. „An allen Ecken und Enden werden derzeit staatlich geförderte Projekte und Programme gestrichen – von der Altenhilfe bis hin zur Integration zugereister Menschen.“ Damit werde der gesellschaftliche Zusammenhalt aufs Spiel gesetzt – ausgerechnet in einer Zeit, in der dieser angesichts der vielen Krisen weltweit und ihrer Auswirkungen hierzulande ohnehin fragil sei.
„Ein großer Held“
Zugleich wachse die Erwartung an Stiftungen, hier zumindest teilweise einzuspringen und eine nachhaltige Finanzierung von Initiativen wie „Zweitzeugen“ sicherzustellen. Genau dafür aber seien viele schlecht gerüstet, meint Antes und verweist auf die unter Stiftungen verbreitete Scheu vor institutioneller Förderung, die nicht selten zu „Projektitis“ führe.
Dabei dürfte außer Frage stehen, dass die Arbeit von Initiativen, die sich wie „Zweitzeugen“ etwa gegen Antisemitismus und Ausgrenzung einsetzen, auf lange Zeit notwendig bleiben wird. Und man ahnt, wie anstrengend diese Arbeit gerade in diesen Wochen ist, wenn Damm zum Ende unseres Gesprächs sagt, dass sie sich manchmal müde fühle und erschöpft.
Doch gleich darauf leuchtet ihr Gesicht wieder auf, als sie von den bislang über 8.600 Briefen erzählt, die Kinder und Jugendliche nach einem „Zweitzeugen“-Workshop „ihrem“ jeweiligen Holocaust-Überlebenden geschrieben haben.
Einer davon ist der von Sara an Rolf Abrahamsohn. „Lieber Rolf“, schrieb das Mädchen, „ich habe deine Geschichte gehört und sie hat mich sehr berührt, ich musste mir meine Tränen verkneifen, ich finde es unglaublich, wie jemand so stark sein kann, ich hätte das nicht so geschafft. In meinen Augen sind Sie ein großer Held und das werden Sie auch immer bleiben.“ Es sind solche Erlebnisse, die Damm darin bestärken, weiterzumachen – jetzt erst recht.
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