Ahnung und Gegenwart
Sie steuern die Geschäfte der großen Kulturstiftungen: Drei Führungskräfte, die sich in der Kunstwelt auskennen, berichten von Zeichen der sich immer deutlicher anbahnenden Zeitenwende, ihrem Anspruch an sich selbst als Kulturförderer und der unabdingbaren Gegenseitigkeit von freier Kunst und gelebter Demokratie.
"Die Ressourcen des Kulturerbes geben uns viel mit"
Dr. Ulrike Lorenz, Klassik Stiftung Weimar:
In der operativen Kulturpraxis der Klassik Stiftung Weimar ist Transformation gelebter Alltag. Einerseits reagieren wir auf einen extremen gesellschaftlichen Wandel, der sich ausdrückt in neuen Lebensvorstellungen, Begriffsbestimmungen und Diskursen sowie einem veränderten Herangehen an das Kulturerbe. Auf der anderen Seite haben sich infolge der sich aufstapelnden Krisen seit 2020 – Klimakrise, Kriege, Pandemie – unsere realen Arbeitsbedingungen verändert: Baukosten explodieren, Lieferketten funktionieren nicht mehr, es gibt veränderte Vorgaben zu Materialien und Nachhaltigkeit, dazu Einsparzwänge, überbordende Prüfungs- und Bewilligungsprozesse unserer Zuwendungsgeber und so weiter – ein absoluter Ernstfall für uns, weil wir nicht nur 20 Museen, ein Literaturarchiv und eine Forschungsbibliothek betreiben, sondern auch als Bauherrin für Denkmalpflege im UNESCO-Welterbe verantwortlich sind. Die Welt des New Work konfrontiert uns mit völlig neuen Anforderungen an Arbeitsplätze und Berufsprofile. Jüngere Generationen bringen andere Wertvorstellungen mit. Es stellt sich also gar nicht die Frage, ob wir Transformation wollen, sie ernst nehmen oder einen kleinen Beitrag dazu leisten möchten. Wir sind ihr in unserer Existenz und Arbeitsweise vielmehr ungefragt direkt ausgeliefert und müssen uns ihr mit der Ausweitung von Handlungsräumen, Eigenverantwortung und unternehmerischer Kreativität stellen.
Immerhin: Die tektonischen Verschiebungen, die wir in unserer Gegenwart erleben, erzeugen einen produktiven Druck hinsichtlich unserer Arbeit am Kulturerbe. Die Klassik Stiftung Weimar beschäftigt sich zentral mit zwei entscheidenden Zeitenwenden der Geschichte: der Goethe-Zeit um 1800 vor dem Hintergrund der Französischen Revolution und Aufklärung sowie dem Aufbruch in die Moderne im frühen 20. Jahrhundert, den wir als Gründungsort des Bauhauses reflektieren. Unsere krisengeschüttelte Gegenwart stolpert im Moment in eine ähnliche Fallhöhe von Epochenwechsel hinein – die heutige Zeitenwende ist vielleicht noch gar nicht richtig da, wird sich aber in den nächsten fünf bis zehn Jahren voll entwickeln. Und diese Kippsituation verlangt es geradezu, aus unserer Gegenwart heraus die Vergangenheit zu befragen: Was können uns die materiellen und immateriellen Ressourcen, für die wir als Kulturerbe-Institution verantwortlich sind, für unsere Zukunft mit auf den Weg geben? Ganz konkret: Was hat uns Goethe als achtsamer Naturforscher zu unserem Umgang mit der Umwelt heute zu sagen? Oder sein Weimarer Kompagnon Herder, der die gleichberechtigte kulturelle Vielstimmigkeit der Völker behauptete – erstaunlicherweise sogar unter ökologischen Gesichtspunkten! Das sind Ansätze, die wir jetzt fruchtbar machen müssen.
Das Bauhaus braucht ebenfalls neue Lesarten. 100 Jahre lang galt es als Synonym für das Fortschrittsparadigma der Industriemoderne. Doch viele seiner Antworten aus den 1920er-Jahren, die auf Massenproduktion und Edeldesign abzielten, sind heute keine Lösung mehr. Auch die politische Geschichte der Institution gilt es auf den Prüfstand zu stellen. In unserer Jahresausstellung „Bauhaus und Nationalsozialismus“ hinterfragen wir den Mythos des „guten“, antifaschistischen Bauhauses. Damit schmälern wir nicht seine großartigen Leistungen, sondern machen begreifbar: So eindeutig ist Geschichte nicht. Die Welt spaltet sich nicht in Gut und Böse, Weiß und Schwarz, es gibt eine Menge Grautöne, Möglichkeits- und Entscheidungsräume. Das kann auch ein Trost sein, der uns vielleicht sogar gelassener in dieses Wahljahr gehen lässt. Wir werden uns auch in noch komplexeren politischen Verhältnissen produktiv verhalten können – und müssen. Das hält uns wach.
"Gut, dass es Auseinandersetzungen gibt"
Dr. Andrea Firmenich, Kunststiftung NRW:
Eine Stiftung kann nicht direkt gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen, sie kann nur wachsam sein und behutsam darauf reagieren. Und dennoch: Wir als Kunststiftung NRW unterstützen zukunftsweisende Projekte – was ist das denn anderes als Transformation? Zukunft kann nie Stagnation bedeuten, sondern ist immer Veränderung, hoffentlich zum Besseren. Bei den Projektvorhaben, die uns Künstlerinnen und Künstler einreichen, schauen wir sehr genau hin. Geht es um ein „same as usual“? Geht es um ein modisches Mit-dem-Strom-Schwimmen? Oder ist da irgendwas dabei, wo man sagt, das ist wirklich was Neues, eben etwas Zukunftsweisendes?
In meinen Augen sind Künstlerinnen und Künstler häufig prophetisch: Sie erspüren sich andeutende Veränderungen. Sie sind sensible Mahner. Ob sie immer gehört werden, ist eine andere Frage. Ich würde mir wünschen, dass die Gesellschaft den Künsten mehr Aufmerksamkeit entgegenbrächte, sich ernsthafter mit künstlerischer Arbeit beschäftigte, dort aufgeworfenen Fragen tolerant und offen begegnete. Mehr und mehr bin ich davon überzeugt, dass die Künste zur Demokratie beitragen können – und wie gefährdet die momentan weltweit ist, wissen wir alle.
Kunstschaffende reagieren tiefgründig und unmittelbar auf die großen Probleme unserer Zeit: den Klimawandel, KI ja?, KI nein?, die zahlreichen politischen Krisenherde, die in der ganzen Welt höchst gefährlich aufflammen. Die internationale Kunstszene steht im ständigen, engen Austausch untereinander. Da gibt es aktuell viele höchst konträre Positionen und Gegenpositionen, die sehr massiv ausgetragen werden. Ich finde es gut, dass es solche Auseinandersetzungen gibt. Es ist immer nur die Frage, wie wir alle darauf reagieren.
Die Kunststiftung NRW unterhält zwei Residenzen im Ausland, eine in Tel Aviv und eine in Istanbul, beides Orte, die politisch nicht einfach sind. Aber wir sind entschlossen, gerade jetzt an den damit verbundenen Residenzstipendien festzuhalten. Aktuell ist zwar kein deutscher Künstler in Tel Aviv, weil das zu gefährlich wäre, aber wir werden ab Juli umgekehrt wieder Künstler aus Tel Aviv bei uns in Deutschland haben. In Istanbul gibt es diese Form des wechselseitigen Austausches nicht, dorthin entsenden wir nur Kunstschaffende aus allen Sparten. Aber wie auch immer das Programm genau abläuft: Die engen, nachhaltigen Netzwerke, die dabei entstehen, sind zum gegenseitigen Verständnis sehr wichtig.
Die größte innere Transformation, die ich in den vergangenen Jahren in unserer Stiftung angestoßen habe, ist, dass die Antragstellung bei uns nur noch digital geht. Das mag selbstverständlich erscheinen, war es aber überhaupt nicht, denn es bedeutete intern wie extern eine riesige Umstellung. Jetzt, drei Jahre nach Einführung, spricht niemand mehr von der Anstrengung, die dies bedeutete, sondern alle sind froh, diesen Schritt vollzogen zu haben.
"Als Förderer auch Forderungen stellen"
Dr. Johannes Janssen, Niedersächsische Sparkassenstiftung und VGH Stiftung:
Auf Transformation reagiert jeder anders. In meinem Team – wie in jedem – gibt es Kolleginnen und Kollegen, die dem gesellschaftlichen Wandel offensiv begegnen und sich davon zur Weiterentwicklung ihres Verantwortungsbereichs inspirieren lassen. Andere sind zögerlicher und sagen: So wie die Dinge bisher gelaufen sind, war es auch gut. Welcher Haltung man eher zuneigt, ist eine Typfrage, und wahrscheinlich braucht jede Organisation eine Mischung aus beiden Positionen. Ich finde am wichtigsten, dass wir als Stiftungen nicht nur danebenstehen, während die Gesellschaft sich transformiert, sondern mittendrin dabei sind und uns offen mit der Frage auseinandersetzen, was das Zeitgeschehen für uns und unsere Arbeit bedeutet.
Als Stiftungen, die Kulturprojekte fördern, wird uns zunehmend bewusst, dass wir mit Blick auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die wir uns wünschen, auch Forderungen stellen müssen. Nehmen Sie das Thema Nachhaltigkeit. Es gibt Kunstausstellungen, die haben einen hohen Materialaufwand: Stellwände, Leihverkehr, Gemälde, die im Flugzeug angereist kommen, und am Ende hat das Ganze eine Laufzeit von sechs Wochen. Das ist alles andere als nachhaltig. Hier brauchen wir konkrete Bedingungen für die Vergabe unserer Fördermittel. Etwa eine Ausstellungsdauer von mindestens drei Monaten, dazu ein Begleitprogramm, das möglichst viele Menschen anspricht – und im Idealfall wird die Ausstellung später auch noch an einem weiteren Ort gezeigt. Solche Kriterien hatten wir bis vor wenigen Jahren gar nicht auf dem Schirm, und zurzeit ist es auch noch kein kategorisches Ausschlusskriterium, wenn sie nicht alle erfüllt sind. Aber wir kommen mit unseren Antragstellern mehr und mehr darüber ins Gespräch, gleichen unsere Erfahrungswerte ab und weisen darauf hin: Denkt dran, in zwei bis drei Jahren werden wir vielleicht sagen, sorry, das Projekt ist zwar inhaltlich gut, aber wenn die Nachhaltigkeitskriterien nicht erfüllt sind, können wir es leider nicht fördern. Es ist übrigens nicht so, dass Nachhaltigkeit bei den Kulturveranstaltern bisher keinen Stellenwert hätte. Sie wird schon jetzt sehr konkret gelebt: Größere Museen haben Nachhaltigkeitsbeauftragte, kleine Kulturvereine arbeiten zur Realisierung ihrer Projekte mit lokalen Handwerkern und Materialien.
Ein anderes Kriterium, das uns am Herzen liegt, ist Teilhabe. Ein Museum kann es sich heute nicht mehr leisten, nur noch das Bildungsbürgertum anzusprechen. Es muss sich der ganzen Gesellschaft zuwenden. Das Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück hat eine „Museumslotsin“, die direkt in die Stadtteile geht und versucht, eine Beziehung zu den Menschen vor Ort aufzubauen und mit ihnen auf Augenhöhe zu kollaborieren. Das finde ich sehr sympathisch. Nicht den dritten Schritt vorm ersten machen, nicht über Leute reden, die man gar nicht kennt, sondern erst mal aufeinander zugehen. Diese Idee steckt auch hinter den Räumen der Begegnung für Menschen mit Fluchterfahrung, die wir zusammen mit den niedersächsischen Bibliotheken geschaffen haben. Immer wieder hatten wir gehört, dass in Flüchtlingsunterkünften Stätten zum Wohlfühlen und Beisammensein fehlen, also haben wir dafür gesorgt, Räume so einzurichten, dass Menschen aus Syrien oder aktuell aus der Ukraine sich eingeladen fühlen. Wenn solche Angebote angenommen werden, haben wir viel erreicht – nicht nur als Stiftungen, auch als Gesellschaft.
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