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Transformation: Alles steht auf dem Prüfstand

Fünf Gedankensplitter und der Versuch eines Fazits von Rupert Graf Strachwitz

I.

Was verlassen wir? Wohin gehen wir in dieser Transformation? Geht es „nur“ um das Ende der Periode nach 1989 oder um das Ende der „Nachkriegszeit“, die 1945 begann und deren Ende 1989 eingeläutet wurde? Oder müssen wir in viel größeren Dimensionen denken?1

Stephen Heintz, Präsident des Rockefeller Brothers Fund, sprach 2019 auf einer Veranstaltung der Gulbenkian Stiftung in Lissabon von einer Krise des Kapitalismus, einer Krise der Demokratie und einer Krise des Nationalstaats2. Ist also das Gefüge der europäischen Nationalstaaten, das im 16. Jahrhundert erdacht3, 1648 vertraglich zementiert, in den folgenden Jahrhunderten auf die ganze Welt ausgedehnt wurde, zu Ende gegangen und wird seit einem halben Jahrhundert von einem komplexen und noch nicht ausgereiften System von transnationalen, subnationalen und nicht gouvernementalen Machtstrukturen abgelöst? Oder ist sogar eine Zeit in Europa zu Ende gegangen, die ihre Wurzeln vor rund 2500 Jahren in der Achsenzeit des Mittelmeerraums hat4, im Mittelmeerraum geprägt, von Europa dominiert wurde und seit über 100 Jahren in kleinen Schritten einer völlig anderen Ordnung der Welt weichen muss? Beinhaltet diese Ordnung ganz neue Konzepte zu Nationalität, Herkunft, Heimat? Sind wir eine globale Gesellschaft in Bewegung?5

Zu wissen, in welcher Dimension wir denken müssen, würde uns helfen einzuordnen, was neu und anders ist. Ein Beispiel: Im Jahr 1 n. Chr. gab es auf dieser Welt wohl 250 Millionen Menschen, im Jahr 1600 550 Millionen, 1950 2,5 Milliarden, heute 8 Milliarden. Es klingt banal, aber dass gesellschaftliche Ordnungskonzepte heute anders aussehen müssen, ergibt sich schon daraus – zumal das Bildungsniveau exponentiell gestiegen ist, also absolut und prozentual mehr Menschen an solchen Fragen interessiert sind und an der Entwicklung teilhaben wollen. Sie zwingen uns, über unsere Gesellschaft neu nachzudenken, ermöglichen uns aber auch, uns den neuen Herausforderungen zu stellen, nicht zuletzt der, ob und wie der Planet die 8 und mehr Milliarden auch verkraftet. Die deliberative Demokratie6 fordert die Zivilgesellschaft heraus, sich an diesen Überlegungen zu beteiligen. Ihre alternative Denk- und Handlungslogik kann die Diskussion voranbringen.7

II.

Die Zivilgesellschaft heutiger Prägung ist die Folge einer Ausdifferenzierung der Gesellschaft. „Was tut das Volk?“, schrieb jemand in großen Lettern an eine Wand. „Es volkt nicht!“ Zu glauben, die Welt sei nur in die knapp 200 Mitglieder der Staatengemeinschaft gegliedert und diese würden als Souveräne das Zusammenleben aller Menschen steuern, ist fern der Realität. Lokale und regionale Einheiten, neue quasi-staatliche Akteure, Akteure der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft und nicht zuletzt intergouvernementale Zusammenschlüsse haben einen ebenso großen Einfluss auf unser Leben8. Hinzu kommen Verpflichtungen wie die „Responsibility to Protect“9. Nationale Allein- oder Sonderwege machen ebenso wenig Sinn wie das Festhalten an der überkommenen Staatlichkeit. Auch für zivilgesellschaftliche Akteure ergibt es keinen Sinn, sich allein in dieser einzurichten oder diese gar als allein handlungsleitend zu begreifen.

Eine neue Arena der Interaktion ist entstanden. Die Akteure in dieser Arena gab es schon immer: heterarchische freiwillige Gemeinschaften (Vereine) und hierarchische, auf Freiwilligkeit basierende Institutionen (Stiftungen), die Herrschaftsstrukturen stützen, sich von diesen abwenden oder sich gegen sie auflehnen konnten10. Als Sammelbezeichnung dafür hat sich, übersetzt vom englischen civil society, in den letzten 20 Jahren der Begriff „Zivilgesellschaft“ durchgesetzt. Er mag missverständlich sein, und manche Akteure stellen zu Recht die Frage, ob sie denn wirklich dazugehören. Aber im Kern ist klar: Gesellschaft spielt sich heute in drei Arenen ab: Staat, Markt, Zivilgesellschaft. Die Arenen und ihre Akteure interagieren, geben sich gegenseitig Impulse, treten als Partner und Wettbewerber auf. Und: Zivilgesellschaft ist keine Mode, sie wird bleiben.11 

III.

Vor 6000 Jahren begannen Schriften in Mesopotamien, Ägypten und China das Weltbild der Menschen nachhaltig zu verändern, vor knapp 600 Jahren begann in Europa die Vervielfältigung von Texten im Druck. Heute weicht die von im Druck verbreitetem Schriftgut geprägte Welt einer Online-Welt, die sich verselbstständigt und immer weniger steuerbar ist. Die Welt kommuniziert, archiviert und erinnert sich online – und zeitgleich. Wir erfahren zeitgleich, wenn in Japan die Erde bebt, im Iran Frauen gegen das Regime aufstehen, Menschen auf dem Mond landen. Wir sprechen mit Menschen, die wir sehen, die aber in Lima, Kapstadt, Buchara oder Rom sind. Der zeitgleiche Austausch von Texten ist da schon vorausgesetzt. Und wenn es mit KI und ChatGPT so weitergeht, brauchen wir die Texte nicht einmal mehr selber zu schreiben.

Über manche dieser Veränderungen (und es gibt noch viele weitere) denken wir gar nicht mehr nach, an andere müssen wir uns gewöhnen, manche erahnen wir gerade einmal – oder auch noch nicht. Sicher ist: Einfach wegstecken lässt sich das alles nicht. Die Online-Welt hat fundamentale Auswirkungen auf unser Zusammenleben, nicht nur in der Kriegführung, sondern auch im bürgerschaftlichen Raum.

IV.

Stiftungen sind eine anthropologische Konstante. Wir finden sie seit den frühen Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens in jeder Kultur und, soweit wir das ermitteln können, in jeder Region der Welt.12 Sie haben als Instrument des Handelns alle Transformationen der Weltgeschichte überdauert; ihr Grundprinzip, die Bindung an den Stifterwillen, hat dafür gesorgt, dass sie auch eine historische Konstante geblieben sind. Das ist ihr Reiz, macht es aber für sie schwierig, sich aktiv an Transformationsprozessen zu beteiligen – wenn sie dennoch davon schwärmen, dass sie dies tun wollen, ist es oft nicht viel mehr als der Wunsch, auf der modischen Welle mitzuschwimmen und sich vielleicht dadurch vor Kritik zu schützen. Sehr wohl nämlich sind in Zeiten von Transformation Stiftungen in großer Zahl untergegangen. Dass eine Stiftung ewig leben soll, war stets ein frommer Wunsch, aber bildete die Realität nie ab.

Die Transformation, in der wir uns gerade befinden, bringt es mit sich, dass Stiftungen in der Kritik stehen – in den USA stärker13 als in Europa. Die Kritikpunkte sind bekannt, einer sei herausgegriffen: die Legitimität von Stiftungen in einer modernen Gesellschaft. Sie wird mit dem Argument bestritten, das Entscheidungsprinzip einer Stiftung als gebundener Einrichtung sei mit dem Grundprinzip der Demokratie unvereinbar. Das ist im Wesentlichen widerlegbar, allerdings desto schwerer, je größer eine Stiftung ist und je machtbewusster sie auftritt14, je mehr sie um Nähe zur Macht buhlt. Um ihre Macht werden viele Stiftungen ihrerseits auch beneidet. Stiftungen haben daher, wollen sie nachhaltig erfolgreich sein, eine Bringschuld, Vertrauen zu erwerben. Wirkung (impact) ist gar nicht so wichtig. Wichtiger sind Transparenz, Selbstkritik und Bescheidenheit, dazu echtes Engagement und ein erkennbares Streben nach Relevanz.15

V.

Die Welt von heute lässt sich von einer „toten Hand“ nichts sagen. Ein Argument, das schon im 18. Jahrhundert gegen die Stiftung benutzt wurde, gilt heute universell. Jede Generation will sich ihre eigene, neue Welt erschaffen; alles, was von einer früheren Generation festgelegt wurde, soll auf den Prüfstand. Vielfach wird Demokratie so interpretiert: Was eine Mehrheit will, soll umgesetzt werden können, auch wenn die Rechte von Minderheiten, die Herrschaft des Rechts, die kulturellen Traditionen dabei auf der Strecke bleiben. Das ist eine Fehlinterpretation von Demokratie; sie wird aber nicht dadurch ausgeräumt, dass „Demokratie“ wie ein Etikett auf alles Mögliche draufgeklebt wird. Wir wollen ja auch nicht, wie es der Marxismus und andere politische Religionen postulierten, den „neuen Menschen“ hervorbringen16, sondern wir wollen unsere Gesellschaft unter Beachtung der vier Prinzipien (1) Menschen- und Bürgerrechte, (2) Herrschaft des Rechts, (3) Demokratie und (4) kulturelle Traditionen weiterentwickeln.17 Diese Prinzipien müssen gegeneinander abgewogen, auf einen Nenner gebracht werden. Dabei müssen wir sehen, dass Menschen- und Bürgerrechte weltweit massiv gefährdet sind. Die Herrschaft des Rechts ist zum Rechtsstaat verkümmert, indem formal verfassungsgemäße Verfahren tatsächlich Unrechtstatbestände generieren. Auch dies hat dazu geführt, dass die Demokratie tatsächlich in einer schweren Krise steckt18. Der bürgerschaftliche Raum kann wesentlich dazu beitragen, dass sie überwunden wird.

Fazit

Mir scheint zum einen, wir müssen Transformation groß denken, wenn wir vernünftige Bewältigungsszenarien entwickeln wollen. Immer nur an die nächste Wahl zu denken, wie unsere Berufspolitiker uns das vorleben, ist ebenso deutlich zu kurz gegriffen wie die Vorstellung, man könne durch das Drehen an technischen Stellschrauben – eine neue Vorschrift hier, ein neuer Fördertopf da – die Transformation beherrschen (oder gar bremsen). Es ist nicht in unser und unserer politischen Eliten Belieben gestellt, wie viel Transformation wir oder sie bewältigen wollen. Wir alle stehen unter dem Druck, sie bewältigen zu müssen, und jeder Beitrag dazu, woher er auch komme, muss willkommen sein. Es gibt historische Beispiele dafür, dass Gesellschaften sich selbst neu erfunden haben.19 Sie haben es geschafft, indem sie eben nicht versucht haben, neuen Wein in alte Schläuche zu gießen, sondern indem sie intensiv darüber nachgedacht haben, wie neue Schläuche wohl aussehen sollten. Die soft power20 der Zivilgesellschaft kann dazu Wichtiges beitragen; Stiftungen im Besonderen können das wirksam unterstützen.

Nachdenken ist also das Gebot der Stunde, nicht plappern, trompeten, jeder Mode nachlaufen oder schnell mal machen. Nachdenken können wir in Universitäten, in Thinktanks, in Vereinigungen und Stiftungen, überall dort, wo es um die Sache und nicht um Macht geht. Konkurrierende Modelle, Szenarien und Konzepte müssen in einen Dialog eintreten, aus dem irgendwann Sieger hervorgehen. Das sind komplexe und konfliktreiche Prozesse, aber es führt kein Weg daran vorbei. Diese Prozesse finden, so lässt sich prognostizieren, nur in offenen Gesellschaften statt, in denen Respekt vor anderen Positionen und eine Atmosphäre des offenen Dialogs herrscht. Autoritäre, populistische oder illiberale Systeme werden nicht mit guten Lösungen aufwarten. Freiheit, Menschenrechte, Herrschaft des Rechts und demokratisch legitimierte Herrschaft sind daher weder Selbstzweck noch Luxus, sondern unabdingbare Voraussetzung dafür, dass das Nachdenken in Gang kommt – so wie ein funktionierender bürgerschaftlicher Raum (civic space) mit einer unabhängigen Zivilgesellschaft die Voraussetzung für eine solche freiheitliche Ordnung bildet. 

Und was das Nachdenken betrifft: Es geht gar nicht einmal so sehr darum, dem Volk in immer neuen empirischen Studien „aufs Maul zu schauen“, auch wenn das nicht vernachlässigt werden darf. Der englische Denker C. P. Snow hat vor mehr als einem halben Jahrhundert die grundlegende Unterscheidung zwischen den Geistes- und Kulturwissenschaften einerseits und den Naturwissenschaften andererseits aufgemacht21. Was wir brauchen, ist der geisteswissenschaftliche Zugang, sind theoretische Konzepte für eine sinnvolle, menschenfreundliche, partizipative Ordnung. Davon können wir gar nicht genug bekommen. Für die Zivilgesellschaft und für die Stiftungen in ihr ist das eine Herausforderung, aber auch eine tolle Chance.

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